Datum: 
17.12.2013

Fehler 5: Ein Mangel an Wissen ist eine allgemeingültige Entschuldigung

Genauso wie Allāh, der Erhabene, großzügig, tolerant und mitleidig ist, kann Sein Gesetz mit diesen Attributen beschrieben werden. Ein Beispiel dafür wäre die Freistellung einer Person von rechtlichen Konsequenzen im Šarīʿah rechtlichen Sinne, wenn sie etwas vergisst, dafür nicht zuständig ist, oder, wie in unserem Beispiel, zu bestimmten Themen[1] kein Wissen hat.

Dazu finden sich viele Beispiele noch aus der Zeit des Propheten – Segen und Friede seien auf ihm -. Er entschuldigte den „Mann, der falsch betete“, da dieser nicht wusste, wie man in richtiger Reihenfolge betet. Ebenso Muʿāwiyah b. al-Ḥakam – möge Allāh mit ihm zufrieden sein – dafür, dass er während dem Gebet freizügig mit anderen sprach, weil er nicht wusste, dass es in der Zwischenzeit verboten wurde. Er – Segen und Friede seien auf ihm – entschuldigte das Volk von Qubāʾ, als sie Richtung Jerusalem beteten, nicht wissend, dass dies aufgehoben wurde, und er entschuldigte einen Gefährten, nachdem dieser nicht gebetet hatte, da kein Wasser zur Verfügung stand und er über Tayammum[2] nicht informiert war. Einst kam ein Mann zum Propheten – Segen und Friede seien auf ihm – und brachte ihm Wein als Geschenk mit. Daraufhin fragte ihn der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm -: „Weißt du nicht, dass Allāh den Konsum von Wein verboten hat?“ Als der Mann dies verneinte, tadelte oder bestrafte der Prophet – Segen und Friede seien auf ihm – ihn nicht.[3] Und dieses Verhalten wird durch folgenden Koranvers unterstrichen: „…Wir strafen nicht eher, bis Wir einen Gesandten geschickt haben.“ (17:15)

Manche Menschen sehen das nun als Freifahrtschein, nicht verantwortlich gemacht zu werden, wenn man zu bestimmten Themen kein Wissen hat. Wenn wir das so betrachten, liegt die Gefahr nahe, in einen Zustand „gewollter Unwissenheit“ zu fallen, uns nicht mit dem Erlangen islamischen Wissens zu beschäftigen, beim Versuch, uns der Verantwortung zu entziehen. Es mag uns, so lange wir mehr lernen, so erscheinen, dass wir uns für mehr verantwortlich machen, und so lange wir weniger wissen, können wir weitermachen wie zuvor, ungehindert von Pflichten, die wir unserem Ermessen nach ans Wissen knüpfen. Bewusst oder unbewusst, von Satan oder uns selbst aus, können wir dies als ein Schlupfloch in der Šarīʿah betrachten, unser Verhalten zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Daher ist es wichtig zu wissen, wer durch Unkenntnis seiner rechtlichen Pflichten entschuldigt ist, und für wen diese Regelung nicht gilt.

Sollte jemand gerechtfertigter Weise über ein Thema keine Ahnung haben, sei es, weil er neu im Islam ist, oder weil er ernsthaft keinen Zugang hat, um dieses Wissen unmissverständlich anzuwenden, so ist er von seinen Fehlern entschuldigt und es wird darüber hinweggesehen. Sollte es aber so sein, dass die Möglichkeit besteht, Wissen zu erlangen, man selbst aber sich absichtlich zum Gegenteil entscheidet, so ist diese „absichtliche Ignoranz“ keine Entschuldigung und man wird sehr wohl für seine Taten verantwortlich gemacht. Dazu gehören sowohl verbotene Praktiken aufgrund von Unwissenheit, als auch falsch oder nicht ganz korrekt durchgeführte Gebete. Aus Šarīʿah rechtlicher Perspektive ist es nun mal so, dass Jemand der die Möglichkeit besitzt, die Gesetze zu lernen, so geahndet wird wie Jemand, der sie tatsächlich gelernt hat[4].

Nach Wissen zu streben ist Pflicht eines jeden Muslims, so wie es in einem berühmten Ḥadīṯ[5] belegt ist. Das bezieht sich sowohl auf das Wissen über Allāh (den Allmächtigen), die grundlegenden Glaubensprinzipe, die Regelungen über das persönliche Tun – wie verläuft die rituelle Reinigung, das Gebet, das Fasten ab – als auch auf das Wissen über weltliche Angelegenheiten wie Nahrung, Kleidung und das Verhalten gegenüber anderen. Wenn man sich entschließt, eine bestimmte Handlung durchzuführen, so ist das Erlernen der islamischen Regeln darüber Pflicht – wie zum Beispiel das Lernen über die Regeln der Ehe und des Familienlebens für Jemanden, der heiraten möchte; Das Lernen über islamisches Handelsrecht für Jemanden, der gerne ein Unternehmen starten möchte; das Lernen über die Almosensteuer für Jemanden, der Geld verdient oder bekommt. Das Wissen über diese und andere Angelegenheiten, die einem Menschen im täglichen Leben begegnen, wird als Farḍ ul-ʿAyn angesehen, eine persönliche und individuelle Verantwortung – das heißt, ein Jeder Muslim, ob männlich oder weiblich, ob Laie oder Gelehrter, muss sich selbst dazu verpflichten, dieses Wissen zu erlangen.

Wenn also Jemand die Möglichkeit besitzt, diese Sachen zu lernen, sich aber dagegen entscheidet, oder Jemanden hat, den er fragen kann, dann aber nach seinem eigenen Willen handelt, oder die Tore des Wissens weit offen sind, man sich aber davon abwendet, wird er sehr wohl für seine Taten verantwortlich gemacht und diese Unwissenheit ist absolut kein Entschuldigungsgrund.

Vergleichsweise könnte man sagen, wenn Jemand eine Handlung begeht, von der er weiß, dass sie verboten ist, ihre rechtlichen Konsequenzen aber nicht kennt, so haben die Konsequenzen dieser Handlung sehr wohl Wirkung. Als Beispiel könnte man ein verheiratetes Ehepaar anführen, das zwar weiß, dass Geschlechtsverkehr tagsüber während dem Ramaḍān verboten ist, jedoch unwissend gegenüber der Tatsache ist, dass es das Fasten bricht. So ist ihr Fasten trotzdem ungültig und muss rechtlich korrekt nachgeholt werden. Oder Jemand missachtet die Rechte anderer, unabhängig davon ob willentlich oder unabsichtlich, so ist er trotzdem dafür verantwortlich, das Recht wieder herzustellen. Wenn man also Etwas stiehlt, unabhängig ob zum Zeitpunkt der Tat das Wissen über die Unrechtmäßigkeit jener vorhanden war oder nicht, so muss man das Gut trotzdem wieder zurückgeben. Diese Beispiele betonen sehr die Idee, dass die Behauptung der Unwissenheit über eine Sache einen automatisch nicht vom Urteil freispricht, und sehr wohl bestimmte Regeln und Bedingungen hat.

Ein arabisches Sprichwort besagt: „Ein unwissender Mensch tut sich selbst und anderen das an, was sich Feinde gegenseitig antun.“

Möge Allah uns vor dem Schaden unserer Ignoranz bewahren und uns aus der Dunkelheit jener in das Licht des Wissens und der Verständnis führen. Möge Er uns zu Menschen machen, die Ihn mit Wissen anbeten, auf die beste Art und Weise, und möge Er uns ustafaqquh (tiefes Verständnis und Auffassung) in seinem Glauben gewähren. Amin.

[1] Zum Beispiel „Grundlagen der islamischen Rechtsprechung“, Mohammed Hashim Kamali, S. 450, oder in der Ahliyyah Sparte von vielen Uṣūl ul-Fiqh Büchern

[2] Aus „Iʿlām ul-muwaqqiʿīn“ von Ibn ul-Qayyim al-Ǧawziyyah, zitiert in einem Artikel von Muḥammad Ṣāliḥ al-Munajjid

[3] Ṣaḥīḥ Muslim

[4] „Grundlagen der islamischen Rechtsprechung“, Mohammed Hashim Kamali

[5] „Kitāb al-ašbāh wa l-naẓāʾir fī furūʿ uš-Šāfiʿīyyah“ von Imam Ǧalāl ud-Dīn as-Suyūṭī, 1/413, Dār us-Salām Publishers