Datum: 
06.07.2016
Kategorie: 

Die Krankheit des Fanatismus – Auszüge einer Stellungnahme von Shaykh Hamza Yusuf zu den jüngsten Terroranschlägen (05.07.2016)

Übersetzt von Muhammed F. Bayraktar

 

Gemäß eines Hadithes, welchen Aḥmad und al-Ṭabarānī überliefern, sagte der Gottgesandte – möge Allah mit ihm zufrieden sein: „Ihr werdet niemals glauben, bis ihr zueinander barmherzig seid.“ Die Gefährten antworteten: „O Gesandter! Wir alle sind barmherzig!“ Der Prophet erklärte: „Ich rede nicht über die Barmherzigkeit, die einer seinen Freunden gegenüber hat. Ich rede über die universelle Barmherzigkeit – Barmherzigkeit jedem gegenüber.“

Ich bin zutiefst bekümmert über jene Muslime und Menschen anderen Glaubens, die in den jüngsten Tragödien in Bagdad vor zwei Tagen, in Bangladesch am letzten Freitag, einen Tag davor in Istanbul, letzte Woche im Libanon und im Jemen und Orlando im letzten Monat geliebte Menschen verloren haben. Einzig meine Gebete sind es, die ich für sie sprechen lassen kann, während ich mir meiner absoluten Ohnmacht gegenüber dem Zustand, der unsere Umma befallen hat, schmerzhaft bewusst bin. Während ich diese Zeilen schrieb, erreichte mich die Nachricht über einen erneuten Bombenanschlag in der Moschee unseres geliebten Propheten in Medina, als die Gläubigen gestern gerade ihr Fasten gebrochen haben. Es wurden vier unschuldige Sicherheitswachen zu Unrecht getötet. Glücklicherweise dachten die Menschen – und dies liegt am Segens dieses Ortes –, dass die Explosion der Laut des Kanonenschlages war, der die Zeit für das Fastenbrechen ankündigt. Die Menschen in der Moschee gerieten also nicht in Panik und es breitete sich keine Angst aus. Der Prophet – möge Allah mit ihm barmherzig sein – sagte: „Wer die Menschen Medinas erschreckt, auf dem lastet der Fluch Gottes, der Engel und der Menschheit.“ Es ist nicht notwendig zu erwähnen, dass der Schrecken dieses Verbrechens durch den Umstand erschwert wird, dass er voller Absicht im gesegneten Monat Ramaḍān geschah.

Die Pest grassiert unter uns und ihre Standorte sind bekannt. Gleich der hirnzerfressenden Amöben, die sich im Warmwasser der südlichen Staaten Amerikas festgesetzt haben, verbreitet sich eine den Glauben zersetzende Pest in der Welt der muslimischen Gemeinschaft. Diese heimtückische Krankheit hat eine Quelle. Diese Quelle muss identifiziert werden, damit wir unsere Gemeinschaften dagegen impfen können.

Neue Versionen unseres uralten Glaubens sprießen hervor und infizieren Herzen, Verstand und unzählige junge Menschen in dieser Welt. Imām Adal al-Kalbānī, der die Gebete im Haram von Mekka mehrere Jahre leitete, sagte ganz offen, dass diese Jugendlichen die bittere Ernte der Lehren sind, welche von den Kanzeln der Arabischen Halbinsel hallten. Lehren, welche alle Ecken dieser Welt durchdrungen haben, die sich auf Hass, Exklusivität, Provinzialismus und Fremdenfeindlichkeit konzentrieren. Diese Lehren verbannt jeden Muslim aus dem Glauben, der nicht ihre naive, einfältige, wortwörtliche, antimetaphysische, primitive, verarmte Form des Islams annimmt. Sie lehnen den immensen Körper der islamischen Gelehrsamkeit und der Leuchten unserer Tradition ab.

Durch ein hochentwickeltes Netzwerk an finanzieller Unterstützung haben diese Lehren den Buchmarkt der gesamten Islamischen Welt, ja auch die Märkte Amerikas, Europas und Australiens überflutet. [...]

Unsere „islamischen“ Schulen sind durchsetzt mit Büchern, die von diesen Sekten veröffentlicht wurden und welche die unbefleckte Vernunft unserer Jugendlichen genau dann verlocken, wenn sie am manipulierbarsten und der Indoktrinierung am zugänglichsten sind. Diese Sekte des Islams ist jedoch nicht die einzige Quelle unserer Krise. Es wäre falsch, sie allein für alles schuldig zu machen. Viele ihrer Anhänger sind friedensliebende Quietisten, welche einfach alleine gelassen werden wollen und ihren Glauben praktizieren möchten, wie es ihnen passt. Ihr Exklusivismus ist zwar eine notwendige, aber nicht alleinige Ursache für den fremdenfeindlichen Hass, der zur Gewalt dieser Art führt. Die terroristischen Islamisten sind ein Hybrid von exklusivistischen Takfiris, die oben erwähnt wurden, und den politischen islamistischen Ideologien, welche die Arabische und Südasiatische Welt nun seit mehreren Jahrzehnten quälen. Es ist diese in der Hölle geschlossene Ehe, die verstanden werden muss, um die schreckliche und qualhafte Situation zu verstehen, in welcher sich unsere Umma befindet. Die Rolle der westlichen Interventionen und Unglücke in diesen Gegenden sollen nicht kleingeredet, ignoriert oder abgelehnt werden in der Schaffung dieses Sumpfes. Jedoch müssen wir uns vor Augen führen, dass die Muslime schon oftmals erobert wurden und in der Vergangenheit Arten von Besatzung erlebten, aber niemals wie diese Fanatiker reagierten. [...]

Wir müssen ganz klar die schädliche und tiefgreifende Natur dieser ideologischen Pest erkennen und wie sie Schuld für das Chaos und den Terror trägt, der sogar die Stadt des Propheten – möge Allah mit ihm zufrieden sein – befallen hat, trotz seiner Unantastbarkeit. Ihre anfälligsten Opfer sind unsere unzufriedenen Jugendlichen, die oftmals ein Leben in trostlosen Umständen mit geringen Hoffnungen auf eine Zukunft führen. Versprechungen des Paradieses und der simplen Auswege und Strategien aus der Ermüdung dieser Welt haben selbstmörderische Jugendliche dazu verlockt, ihr Krankheitsbild in der dämonisch irreführenden Sache des „islamischen“ Radikalismus zur Schau zu stellen. Die Bilder, die sie hinterlassen – arrogantes Lachen auf ihren Gesichtern, sogar dann, wenn sie in ihren unglückseligen Händen die Sturmgewehre westlicher Produktion halten – sind Zeugnisse der wirkungsvollen Gehirnwäsche, der diese unterzogen wurden.

Der angerichtete Schaden ist nicht nur innerhalb des Islams, sondern auch in der Welt. Sie schaden dem guten Namen des Islams. Es gibt nun tägliche Ereignisse der Vernichtung, der hasserfüllten Gewalt, welche die Stimme des normativen Islams zum Ersticken bringen. Dadurch entsteht wahrer Hass in den Herzen jener, die nicht in unserer Gemeinschaft sind. Unter vielen Menschen in dieser Welt wird nun der Islam, einst eine große Weltreligion, nur noch als eine politische Ideologie angesehen, welche die globale Sicherheit gefährdet. Dies erweist sich als verheerend für die meisten muslimischen Minderheiten, die in zunehmend feindlichen Umgebungen in säkularen Gesellschaften leben.

Um gegen diese Pest angehen zu können, benötigen wir die Stimmen der Gelehrten und Aktivisten, die Basisarbeit betreiben und die wahren Schuldigen hinter dieser fanatischen Ideologie ausmachen können. Was wir nicht brauchen sind noch mehr Stimmen, welche das Problem mit leeren, nichtssagenden und gehaltlosen Argumenten zu verdecken versuchen, indem sie sagen, dieser Kampfgeist habe nichts mit Religion zu tun. Er hat ganz und gar etwas mit Religion zu tun: mit irregeleiteter, fanatischer, ideologischer und politisierter Religion. Er ist die Religion der Feindseligkeit, des Neides, der Machtlosigkeit und des Nihilismus. Jedoch hat er nichts mit den barmherzigen Lehren unseres Propheten – der Friede Allahs sei auf ihm – zu tun. Wenn diese Pest nicht angegangen wird, wird sie weiterhin Gewalt schüren, bis eines Tages, Gott bewahre, diese hasserfüllten und abscheulichen Anhänger eine Nuklearwaffe in ihre Hand bekommen, deren Verwendung jedoch von ihren „Gelehrten“ verboten wurde, von denen einer momentan in Saudi Arabien im Gefängnis sitzt. Wenn ein solches Szenario sich bewahrheitet, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich der volle Zorn der westlichen Macht auf die muslimische Welt stürzt. Dies würde die Invasion der Mongolen des 13. Jahrhunderts im Vergleich dazu zu einem Spaziergang im Park machen.

Unausweichlich werden nun einige anmerken, die Furcht vor westlicher Rache sei nur ein Zeichen der Feigheit. Diesen Eiferern empfehle ich, dass sie sich dem Koran zuwenden und insbesondere nachdenken über den Gottgesandten, an dessen Mut kein Zweifel besteht. Er tötete unabsichtlich einen Ägypter, nachdem er ihm einen heftigen Schlag gab, weil er ihn als einen Gegner sah. Da ersuchte er die Vergebung Gottes und «so ging er furchtsam aus ihr fort und hielt (immer wieder) Ausschau» (al-Qasas, 28:21). Dies ist eine warnende Geschichte und ruft uns alle dazu auf, darüber nachzudenken, was nicht getan werden sollte, wenn jemand unterdrückt wird. Insbesondere dann, wenn jemand keine politische Autorität hinter sich hat oder die Mittel, gegen die Beschwerden anzugehen. Imām al-Suhrawardī sagte: „Vor Heimsuchungen zu fliehen ist der Brauch der Propheten.“ Unser niedriges Selbst und unsere Lust auf Rache sollten nicht die Oberhand über uns gewinnen.

Es würde uns sehr gut tun, wenn wir anerkennen würden, dass das allermeiste was in der muslimischen Welt und den muslimischen Gemeinschaften im Westen geschieht, nur das ist, was wir mit unseren eigenen Händen gesät haben. Muslime sind nun schon eine sehr lange Zeit im Westen und haben sehr wenig getan, um die Menschen über ihren Glauben aufzuklären. Zu viele von uns waren mit weltlichen Angelegenheiten beschäftigt, während einige unserer Moscheen und Schulen Brutstätten des ideologischen Islamismus anstelle des Islams waren. Der Koran lehrt uns, dass wir zuerst auf uns schauen sollen, wenn Heimsuchungen uns treffen. Was haben wir getan, dass dies über uns kam? Selbstbeobachtung ist ein koranischer Befehl. Solange wir nicht im Einklang mit den koranischen Wahrheiten sind, werden wir beschmutzt sein mit der Illusion der Ablehnung, immer mit dem Finger in die Richtung anderer deutend – doch nie auf uns selbst zeigend: «Allah ändert nicht den Zustand eines Volkes, bis sie das ändern, was in ihnen selbst ist.» (Ar-Rad, 13:11) 

Der Ramaḍān kommt nun zu einem Ende und so lasst uns beten für die Unterdrückten und um Leitung für die Unterdrücker, für die Ermordeten und für jene, die ihre Geliebten verloren haben und am allermeisten lasst uns hören auf den Ruf unseres Propheten und lasst uns Barmherzigkeit für alle wünschen.