Datum: 
23.02.2016

LEIDEN UND GÖTTLICHE WEISHEIT

Beantwortet von Shaykh Nuh Keller

FRAGE: Warum erlaubt Allāh Leid und Böses? Was ist das Böse?

ANTWORT: Shaykh al-'Alawi sagte einst: "All das Universum ist Licht, und das Einzige, das es verdunkelt, ist die Manifestation des Selbst darin." Shaykh 'Abd al-Rahman al-Shaghouri, der Shaykh al-'Alawi traf, und mir dies überbrachte, lehrte üblicherweise, dass die Vorstellung, welche unser Herz beeinflusst, aus einem von vier Anteilen kommt:

Vorstellungen von Tawḥīd oder der absoluten Einheit des Göttlichen kommen alle vom Allbarmherzigen Selbst;

jene der guten Taten kommen durch die Präsenz der Engel;

jene der Lust und des Verlangens vom Ego;

und jene des Zweifels in ewige Wahrheiten kommen vom Teufel.

 

Nun, all dies kommt letztlich von dem Ersten davon, wie es im Qur´ān heißt:"Allāh ist der Schöpfer aller Dinge" (13:16) und der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: "Wahrlich, die Herzen der Menschheit, alle von ihnen, sind zwischen zwei Fingern des Allbarmherzigen wie ein einziges Herz, welches Er wendet, wohin Er will." (Muslim (14), 4.2045:2654)
Imam Ghazali verstand die "Hand Allāhs" in diesem Hadiṯ als Seine Allmacht, durch welche der Antrieb der Engel und Teufel, gut oder schlecht, Herzen wie "zwei Finger" bewegen. Er sagt:"Allāh vollbringt was Er (in den Herzen) tut, dadurch, dass Er Engel und Teufel kontrolliert, welche unter der Kraft Seiner Allmacht im Wenden der Herzen stehen, so wie man selbst zum Beispiel die vollste Kontrolle über seine eigenen zwei Finger hat, mit denen man Gegenstände dreht." (vgl. Ihya 'ulum al-din (4), 3.24)

Dadurch erfahren wir auch, dass die Frage selbst, “Warum lässt Allāh Leid zu?”, von Allāh geschaffen wurde, jedoch in die Herzen der Menschen als Anklage gegen Gott durch den Teufel gelegt wurde, welcher zu Allāh schwor: “...will ich ihnen wahrlich das Böse auf Erden herausschmücken, und wahrlich, ich will sie alle irreleiten, bis auf Deine erwählten Diener unter ihnen” (Qur´ān, 15:39-40).

Das heißt, solche Fragen kommen aus dem Teil der Hölle, jedoch sind wir selbst für unsere eigenen Handlungen verantwortlich, da Ehrlichkeit die freie Wahl mit sich zieht. Vielleicht liegt die vielsagende Antwort daher nicht in Wörtern, sondern im “ Iḫlāṣ”, oder der Aufrichtigkeit gegenüber dem Göttlichen, die allein gegen den Feind, der den Zweifel in unsere Herzen sät, als eine Prüfung von Allāh, Nutzen bringen kann.
 

1. DIE THEODIZEE

Das Problem des Leidens ist in der europäischen Philosophie seit Leibniz' Zeit bekannt, der ein Buch danach benannt hat, abgeleitet vom griechischen Wort “Theos” (Gott) und “dike” (Gerechtigkeit). Der Leser wird wenige andere, philosophische Bezugnahmen weiter unten finden, jedoch haben trotz allem viele jüdische und christliche Philosophen dieses Problem behandelt, unter ihnen Augustinus, Maimonides, Aquin, Spinoza, Hume, Mill und eine bedeutende Anzahl von ihnen im 20. Jahrhundert. Es gibt keinen vergleichbaren Aufbau an Literatur in Traditionen des Taoismus, Buddhismus oder Hinduismus, vielleicht auch deshalb, da die meisten ihrer Anhänger an Wiedergeburt und das unaufhaltsame Gesetz des Karma glauben, welche die Schuld des Leidens an den Leidenden direkt für seine Missetaten in diesem oder im vorigen Leben, stellt. Dem wurde auch im Islam nicht viel Beachtung geschenkt, weil, wie ich glaube, Allāh Zweifel der Menschen in Qur´ān und Sunna voraus beantwortet. Ich habe daher die Antworten der Philosophen unerforscht gelassen, um das Göttliche für Sich Selbst sprechen zu lassen. Außerdem habe ich die Offenbarung zu dieser Frage erläutert, so wie sie von meinem Lehrer, Shaykh 'Abd al-Rahman, und anderen traditionellen Gelehrten verstanden wurde, zusammen mit meinem einfachen Menschenverstand über die Lektionen des Lebens.

Zu der oben gestellten Frage beschränke ich mich darauf, was ein menschliches Wesen darüber wissen muss.

Die Kraft der Frage, wenn wir sie logisch zerteilen, beinhaltet einige Voraussetzungen:

(1) Gott ist allmächtig.

(2) Gott ist gerecht und gut.

(3) Jemand der gerecht und gut ist, würde kein Leid und Übel zulassen, sofern er es verhindern kann, trotzdem existiert beides auf der Welt.

(4) Daher ist Gott entweder nicht allmächtig, oder er ist nicht gerecht und gut.

Die Schlussfolgerung ist ungültig, nicht nur weil die Voraussetzungen fast unmerklich fehlerhaft sind, wie wir weiter unten feststellen und mit vielen Beispielen entgegnen werden, sondern auch weil die ganze Antwort in der absoluten Perfektion Allāhs liegt. Die obige Deduktion nimmt an, dass schlichte Worte die göttliche Weisheit des Leidens erklären können, obwohl es nur intuitiv durch das Licht Allāhs im Herzen widergespiegelt werden kann. Das heißt, einfache Antworten können formuliert werden, indem man etwas “sagt”, während hingegen die Antwort auf die Frage “Warum lässt Allāh Leid und Übel zu?”, nur – so wie ich verstehe – direkt intuitiv erfasst werden kann, indem man etwas ist. Der Weg, den uns unser Shaykh beibrachte, wie man das “sein” ändert, beinhaltet drei Stufen: Wissen ('Ilm), Handeln ('Amal) und den sich daraus ergebenden spirituellen Zustand (Hal). Worte können Wissen nur vermitteln, drängen dass es praktiziert wird, und den Folgezustand nur andeuten oder bezeichnen, während diese spezifische Antwort nur so zustande kommt, indem man diese drei Phasen durch die eigenen, existentiellen Entscheidungen durchmacht.

Wenn wir jedoch jene einfachen und griffbereiten Aspekte mit Hilfe von Worten erläutern, wird Allāh dem Leser vielleicht helfen, den Rest der Reise zu durchlaufen, und die Antwort im eigenen Herzen zu finden.
 

2. WISSEN ÜBER DAS GÖTTLICHE

Das notwendige Wissen um die genannte Frage zu verstehen ist das Wissen über Allāh, Der Seine Offenbarung dadurch eröffnet, indem Er sagt:“Im Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen”. Laut Ibn al-'Arabi ist dieser erste Vers das Prädikat eines Subjektes, welches in Ellipsen ausgelassen ist, so wie es des Öfteren im Qur'ān der Fall ist, und die vollständige Bedeutung lautet: “(Der Ursprung und die Erscheinung der Welt sind nur) Im (d.h. aufgrund oder wegen des) Namen Allāhs, des Allerbarmers, des Barmherzigen” (Al-Futuhat al Makkiyya, (7), 1.102).

Diese eröffnenden Worte übermitteln das Geheimnis allen erschaffenen Seins: Dass seine Realität im größeren Kontext liegt, in dem es artikuliert wurde und seine Existenz hat. Der “Allerbarmer” (Al-Rahman) bezeichnet das Durchdringen göttlicher Gnade von Allem im Kosmos, in dieser Welt und der nächsten, indem es aus der Entbehrung des Nicht-Seins in die Perfektion temporären Seins hervorgebracht wird. Es ist eine unglaubliche Gnade und die ontologische Grundlage unserer Dienerschaft.

Der Barmherzigste (Al-Rahim) ist eine verstärkte Form des vorigen Namens, welcher einen qualitativen Sprung in der Größe Seiner Gnade darstellt und durch eine göttliche Erscheinung vollkommen in der nächsten Welt manifestiert wird, nach dem Tod, für alle fühlenden Wesen ('Alamin) die Allāh liebt, von den Menschen, Dschinn, Engeln und allen anderen. Seine Unendlichkeit im Rang entspricht Seiner Unendlichkeit in der Zeit, oder eher Zeitlosigkeit, sich in die Ewigkeit streckend, so wie es ist.

Wie können sie, obwohl sie endlich sind, in das Unendliche voranschreiten? Indem sie durch einen Prozess umgewandelt und veredelt werden, der ihre Möglichkeiten erhebt, durch die schlichte Gnade und Gunst des Göttlichen, wie es im qur´ānischen Vers, unmittelbar auf den ersten folgend, steht: “Al Hamdu lillahi Rabbi l-'alamin” - Lob sei Allāh, dem Herrn der Welten. Das Wort “Rabb”, hier sehr ungenau übersetzt als Herr, ist im Original ein “Masdar”, oder ein verbales Nomen, welches in der älteren arabischen Sprache, Erhebung, Erziehung, Hervorbringung, kennzeichnete, im spezifischen Sinne etwas, das zuerst auf einer unvollkommenen Ebene war, genommen wird, und dann stufenweise zur gewünschten Ebene der Perfektion gebracht wird; die Bedeutung der Liebe, Güte und Zartheit, mit der dies normalerweise geschieht, ist darin inbegriffen. Dieses verbale Nomen, so wie andere in der arabischen Sprache, wurde lexikalisch an ihren “Handelnden” angewandt, in einer Art Hyperbel, in Anbetracht der Unendlichkeit und Intensität, mit welcher der Handelnde, Allāh, es tut – so wie das englische Wort “justice” eigentlich eine bestimmte Prozedur kennzeichnet, auch dafür verwendet wird, dass es die Beamten, die diesem Beruf zugehören, beschreibt.

“Rabb al-'Alamin” oder “Herr der Welten der Geschöpfe”, in diesem Sinne, erhebt Seine Diener dadurch, indem Er ihre Willen und Leben einem größeren Kontext, in welchem sie sich befinden, zuordnet; hinweg von Anhänglichkeit zu Dingen, oder dass sie sich selbst als Dinge betrachten, oder glauben, dass diese Dinge Glück bringen, hin zur “Bedeutung” von Dingen. Wozu sind diese “Dinge” gut?

Unser Shaykh war der Meinung, dass existierende Dinge Allāh wertvoll sind ('Aziza) und, dass sie eine Manifestation Seiner Attribute, insbesondere Seiner göttlichen Gnade und Seines Mitgefühls, sind, so wie es der eröffnende Vers des Qur´ān andeutet. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: “Als Allāh die Schöpfung erschuf, schrieb Er in Seiner Schrift etwas, dass Er für sich Selbst zur Verpflichtung gemacht hat, und das nahe an Ihm an Seinem Throne steht: ´Wahrlich, Meine Gnade übertrifft Meinen Zorn.´”
(vgl. Bukhari, (2), 9.147:7404)

Es gibt daher göttliche Gnade und göttlichen Zorn. Das Erstere ist Teil Seiner unendlichen Schönheit (Jamal) während das Letztere Teil seiner grenzenlosen Majestät und Gerechtigkeit (Jalal) ist. Er sagt: “Ich treffe mit Meiner Strafe wen Ich will; doch Meine Barmherzigkeit umfasst jedes Ding; so werde Ich sie bestimmen für jene, die recht handeln und die Zakāh zahlen und die an Unsere Zeichen glauben.” (Qur'an, 7:156). Das heißt, Seine Gnade ist für diejenigen vorgeschrieben, die bereit sind, zuzuhören und zu folgen.

Wir erfahren Leid und Übel. Aber deren Sinn liegt nicht darin, Anschuldigungen gegenüber Gott zu machen, sondern eher sich von ihnen zu befreien, indem wir uns an die unendliche Glückseligkeit mit Ihm verbinden. Das wird nicht einfach nur durch “Iman”, oder das Wissen über Allāh, erreicht, sondern durch die Handlungen, die Seiner göttlichen Macht, Majestät und Schönheit angemessen sind. Genauer gesagt ist es die Dienerschaft, oder “'Ubudiyya”. Dort wo wahres Wissen über den Meister ist, dort ist Liebe und wo Liebe ist, gibt es hingebungsvollen Dienst.

 

3. DIENERSCHAFT

Die Bedeutung vorhandener Dinge, unseres Lebens und unseren Todes, liegt im Universum der möglichen Handlungen darin. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die großen Themen englischer Literatur, insbesondere seit dem Aufstieg des Atheismus unter Intellektuellen im späten 19. Jh. sich geradezu in einem einzigen Thema vereint haben: Die Entfremdung des Menschen vor seiner eigenen Bedeutungslosigkeit. Für einen Diener Allāhs ist dies etwas unvorstellbares, mit Ausnahme von jenen krankhaften unter ihnen, die weit weg von Gott sind. Denn ein Diener ist nur dann bedeutungslos, wenn er sich außerhalb des Zusammenhangs – nämlich seines Meisters - befindet, in dem er existiert, “der den Tod erschaffen hat und das Leben, dass Er euch prüfe, wer von euch der Beste ist im Handeln” (Qur´ān, 67:2). Die gewaltigsten der persönlichen Realitäten, denen sich jeder von uns stellt, nämlich Leben und Tod selbst, sind eine Prüfung für etwas jenseits davon. Die Frage der Theodizee kann nicht beantwortet werden, solange wir das nicht verstehen.

Das größere Bild erzählt um einiges mehr. Stellen Sie sich für einen Moment vor ihrem geistigen Auge vor, Sie wären im Gang einer Lehranstalt, und schauen in einen der Räume durch die offene Tür. Er ist mit einer Gruppe von Jugendlichen besetzt, die auf ihren Schulbänken sitzen, auf Papier schreiben, gelegentlich auf die Wanduhr schauen, aber sie sprechen nicht, noch sehen sie sich gegenseitig an. Sie schreiben so schnell wie möglich. Noch immer ist dies ein oberflächlicher Eindruck, unverständlich für jemanden, der noch nie etwas von Studenten bei einem Test gehört hat. Die Realität davon liegt im größeren Rahmen ringsherum. Wir sind auf einer Medizin-Uni, am Ende des Semesters. Die Wahrheit darüber liegt wiederum in der Rolle von Universitäten im Allgemeinen, der Beruf der praktischen Medizin im größeren gesellschaftlichen und historischen Kontext, in welchem die Universität ihr Dasein fristet, und in einer Weltwirtschaft, die auf angestellte Personalkräfte in jenen Unternehmen, in welche die Studenten einsteigen, fokussiert ist.

Gerade jetzt verbiegt eine der Studentinnen ihre Finger und greift sich an ihr rechtes Handgelenk, massiert es für einen Moment, bevor sie weiterschreibt. Sie hat einen Schreibkrampf, weiß aber, dass er nach dem Test verschwunden sein wird, genauso wie der Kaffee, den sie exzessiv in den letzten Wochen getrunken hat, die späten Stunden die sie mit ihren Kommilitonen letzte Nacht lernend verbracht hat, und die Stresshormone, die noch immer in ihren Venen fließen. Welchen Sinn könnte man diesen Anstrengungen die sie auf sich nimmt, entnehmen, so lange wir nicht verstehen, dass sie vorhat, Ärztin zu werden?

Nun, Menschen teilen sich in zwei Kategorien in Anbetracht dieses Szenarios und in der Tat in Anbetracht von allem: Diejenigen, die seine Bedeutung verstehen, und diejenigen, die es nicht tun. “Sprich: Sind solche, die wissen, denen gleich, die nicht wissen?” (Qur´ān, 39:9). Einerseits betrachtet der “Kafir”, lexikalisch beides bezeichnend, Leugner oder Ungläubiger, und nicht indirekt einen Undankbaren (wörtlich jemand der “ganzheitlich bedeckt” ist) - durch seine eigene Selbstsucht, Gottverlassenheit, Dinghaftigkeit – Gegenstände als primär, als eigentlichen Grund der Realität und als die Beständigkeit der Welt. Umgekehrt sind Handlungen für ihn kurzlebig, in sich selbst verschwindend, mit Ausnahme von Mittel, um mehr Dinge anzuhäufen - seien sie immateriell wie Ruhm, Ansehen und Macht - oder materiell, so wie Reichtum, Kleidung und Besitz. Wo Hoffnung existiert, die nicht weitergeht als Glück zu maximieren, Lust anzuhäufen, Schmerz und Trauer zu vermeiden, ist für den Kafir die Bedeutung des Lebens nicht mehr als ein “Anhäufen von etwas”. Wie ich einst auf einem Heckaufkleber eines Autos las: “Derjenige, der zum Todeszeitpunkt die meisten Spielsachen hat, gewinnt.”

Andererseits hat der “Mu'min”, der Gläubige als jemand, der seinen Blick auf die Unendlichkeit gerichtet hat, die gegensätzliche Auffassung: Handlungen, insbesondere jene die nur für Gott allein sind, sind das Permanente auf dieser Welt, während Dinge vergänglich sind. “Alle Dinge sind vergänglich” so erklärt sein Schöpfer, “bis auf Sein Angesicht.” (Qur´ān, 28:88). „Angesicht“ ist im arabischen eine Metapher für etwas, was jemanden am meisten auszeichnet, quasi die Person selbst; Hier ist es Allāh, und in Erweiterung alles, was bloß nur für Ihn und niemanden sonst getan wird.

Der Kosmos, im Makrokosmos und Mikrokosmos, die Unendlichkeit von Weisheit und Empfindungsvermögen, von menschlicher Erfahrung innerhalb und außerhalb – existieren um die Einheit des Göttlichen zu verkünden und zu überbringen (Tawḥīd). “Bald werden Wir sie Unsere Zeichen sehen lassen überall auf Erden und an ihnen selbst, bis ihnen deutlich wird, dass es die Wahrheit ist.” (Qur´ān, 41:53)

Der Bedeutungsgehalt von Dingen liegt daher außerhalb der Dinge, sowie die Bedeutung eines Symbols darin liegt, was es darstellt, wohin es deutet und was es impliziert.

(…)
 

4. DER KONTEXT DER GÖTTLICHEN NAMEN

Shaykh 'Abd al-Rahman lehrte uns, dass die göttlichen Namen mit existierenden Dingen wetteifern, um ihre Bedeutung in ihnen zu manifestieren. Nehmen wir das Beispiel eines jungen Mannes aus einer guten Familie, der in schlechte Gesellschaft gerät und in die Art wie sie Dinge sehen und tun hineindriftet, unter dem Einfluss des Namens Al-Khāfiḍ, “Der Herabsetzende”, und zuletzt Al-Mudhill, “Der Entehrende”, bis der Tag kommt, an dem er nicht tiefer sinken kann und sich selbst anekelt. Der Name Al-Tawwab, oder “Der Mildernde” tritt hervor, er erinnert sich daran wie er gewesen ist, erkennt was aus ihm geworden ist, findet sich selbst und empfindet Scham vor seinem Schöpfer, gegenüber Dem er bereut. Über Tage und Wochen hinweg sehen wir, wie er sich verbessert, unter den Folgen des Al-Rafi - “Der Erhöhende”. Er sucht sich bessere Gesellschaft, sagt sich von schlechten, alten Verhaltensweisen los, gelangt in die Sphäre von Al-Wadud, “Der Liebende”, zu Al-Karim, “Der Gütige” und so weiter. Das Zusammenspiel der Namen und ihrer Ableitungen ist komplex und (wirkt) gegenseitig durchdringend. Der Name Al-Musawwir zum Beispiel, “Der Gestalter, Der Formende, Der Organisierer” manifestiert alle Bedeutungen in allem Existenten; während Al-Warith, “Der Erbende” verbleibt, nachdem Implikationen des Vorangegangenen von jedem einzeln Existierenden aufgehoben wurden und, ausradiert, zerstreut sind. Der Name Al-Muqaddim, “Der Beförderer, Der Vorwärtsbringer”, geht etwas Vorhandenem voraus, in Arbeit, Rang oder in Erscheinungszeit. Während Al-Mu'akhkhir, “Der Verzögernde, Der Verschiebende” Geschehnisse und Vorhandenes hinter Andere verzögert oder zurückhält. Der Name Al-Wahhab, “Der Verleiher, Der Gebende” Seine Großzügigkeit unablässig, frei und universell verteilt, und nichts im Gegenzug erwartet. Al-Mani', “Der Zurückhalter, der Schützende” hält auf, verneint, überprüft und wehrt Angriffe ab. Der Name Al-Nafi', “Der Hilfreiche, der Wohltäter” hilft, fördert, und tut Gutes gegenüber wem Er immer auch will. Al-Darr, “Der Erzeuger der Not” schadet, verletzt und verdirbt, wen auch immer Er will. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: “Wahrlich, Allāh hat 99 Namen, und wer auch immer diese versteht, wird ins Paradies eintreten.” (vgl.Tirmidhi, (19), 5.532:3508). Der Gläubige, der Heilige, der 'Arif oder “direkte und erfahrungsgemäße Kenner Allāhs” - sie alle kennen Allāh in Seinen Manifestationen und Ableitungen, jeder nach seiner eigenen Erleuchtung und nach seinem Bewusstsein über den Göttlichen. Sie befinden sich offensichtlich in einer wundersamen Balance der natürlichen Welt unter den Spezies, deren Interessen untrennbar miteinander durch Fütterung, Parasitismus, Symbiose und dem vielleicht dramatischsten überhaupt – der Beute-Opfer-Beziehung verbunden sind. Auf Isle Royale, zum Beispiel, einem ca. 72 kilometerlangen Nationalpark, getrennt durch ein ca. 23 Kilometer offenes Gewässer des Lake Superior vor der Küste Ontarios, gab es vor 1908 keine Elche, bis eine Gruppe von ihnen durch den Kanal schwamm, um einem Rudel Wölfe auf dem Festland zu entkommen. Bis 1915 stieg ihre Anzahl auf 200. Der Bestand wuchs bis 1930 unaufhaltsam, ungehindert der natürlichen Feinde, bis die Elche so viel von der Vegetation auf der Insel verschlangen, dass sie herdenweise hungerten, ausgemagert und krank wurden. Die rund 800 Tiere vegetierten miserabel und abgemagert bis zum Winter 1948/49 dahin, als ein Wolfsrudel von rund 20 Waldwölfen über das Eis kam und Jagd auf die Herde machte. Diese wurde auf rund 600 Tiere reduziert, oder auf 30 Elche pro Wolf, was der natürlichen Balance zwischen den zwei Arten in freier Wildbahn entspricht. Die äußerliche Brutalität der Wölfe, wie sie die Elche einzeln zur Strecke brachten und fraßen, das unvermeidbare Blut, die Angst und das Leid der Beute in den Krallen des Jägers erwiesen sich als göttliche Gnade, die in der Erholung des Bestandes als Ganzes auf der Insel resultierte. Innerhalb weniger Jahre war die Herde besser gefüttert und gesünder als zu irgendeiner Zeit in den 50 Jahren zuvor, in denen es dort gelebt hat (vgl. The Seven Mysteries of Life (13), 474-475).

Hierin liegt die besondere Bedeutung für die Theodizee, dass die Perfektion dieser Welt und der nächsten in der Gesamtheit der unzähligen, gegenseitig durchdringenden, und zusammenhängenden Verfahren, Faktoren und Konsequenzen dieser Namen liegt. Jede einzelne “Perfektion” der Schöpfung steht lediglich nur über anderen, die in einem bestimmten Ausmaß gewissen Entbehrungen untergeordnet sein müssen, empfunden als Schmerz, Übel oder Leid. Ein “guter Arbeitsplatz” existiert, zum Beispiel, nur im Gegensatz zu den schlechter bezahlten, in welchen andere Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen.

Vielmehr erfüllt ein bestimmtes Ergänzungsprinzip die eigentlichen Begriffe, in welchen die Perfektion der Einzelheiten ausgelegt wird. Daher hat Triumph keine Bedeutung ohne die Möglichkeit des Abgrundes, Freundschaft ohne die Wahl der Feindschaft, Frieden ohne Krieg, Gesundheit ohne Krankheit, Sicherheit ohne Gefahr, Macht ohne Demütigung, oder Leben ohne Tod. Daher existieren Leid und Übel, um ihr Gegenteil zu verdeutlichen: menschliches Glück und Perfektion. Nicht als ein “absurder Standard” um das Göttliche zu messen, welches in Seiner Gesamtheit eher sie misst. Dienerschaft bedeutet die Zugehörigkeit zur Menschheit zu akzeptieren und nicht die zu Gott.
Imam Juwayni, Ghazalis Lehrer in Glaubensgrundlagen, drückt dies folgendermaßen aus indem er sagt: “Es gibt weder gut noch schlecht in den Handlungen von Allāh, des Allerhabenen und Erhöhten, in Bezug auf Seine Göttlichkeit, da alle Handlungen in Bezug auf Ihn gleich sind. Aber ihre Stufen unterscheiden sich in Bezug auf die geschaffenen Diener”. (Al-Aqida al Nizamiyya (11), 35-36).

Die höchste Souveränität Allāhs ist der ultimative Grund, warum Theodizee, sofern sie ernsthaft von anderen Glaubensrichtungen diskutiert wird, eine viel geringere Relevanz für Muslime aufweist. Die Gesinnung des Islam, oder “die Unterwerfung gegenüber Allāh”, reduziert die Ordnung geschaffener Wesen in all ihrer Komplexität nicht auf gut oder schlecht, da sich dies auf geschaffene Individuen bezieht. Es erkennt vielmehr an, dass das Universum ein größerer Kontext ist, ein Theater, ein Proberaum für menschliche Handlungen, um die Stufen, Schattierungen und Nuancen der schöpferischen Liebe oder des Zorns widerzuspiegeln. Die Gotteserscheinung von Allāhs Liebe im Menschen liegt in “Tawfiq”, dem Gott-gegebenen Erfolg, Ihm zu folgen. Die Theophanie Seines Zorns liegt im menschlichen “Erniedrigung”, des “göttlichen Überlassens” eines Dieners für seinem eigenen Stolz oder seiner Torheit. Es ist kein Geheimnis, was hier was ist, da Allāh uns Gesandte geschickt hat, um es uns zu erklären. Er gab uns Augen und Ohren mit denen wir ihre Botschaft vernehmen können, einen Intellekt um sie zu verstehen, und ein Leben und Tod um es zu realisieren. Handeln nach dem, was man weiß, bringt einen erleuchtenden Zustand, “Hal”, mit sich, in welchem die Weisheit von Leid und Übel als gegeben betrachtet wird, weil die daraus resultierende Nähe, “Qurb”, die Erfahrung eher in “Erfolg (tawfīq)” als in “Erniedrigung” umwandelt.
 

5. DIE AKZEPTANZ ALLĀHS

Ein großer Teil menschlichen Erfolg liegt in der Weisheit, über die Allāh sagt: “Er gewährt Weisheit, wem Er will. Und wem Weisheit gewährt wird, diesem wurde bereits viel Gutes gewährt.” (Qurān, 2:269). Im gängigen Verständnis wird Weisheit mit dem weitsichtigen Verständnis von Angelegenheiten gleichgesetzt, welche dem Verständnis der weniger weitsichtigen gegenübersteht. Die Gelehrten des Islam beschrieben es als “etwas an seinen wahren Ort bringen”, während Ghazali es einfach als “das, was vom Propheten Allāhs (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) gebracht wurde”, beschrieb. Sicherlich ist das Erkennen der Weisheit Allāhs in allem Teil dieser Definition, und darin liegt auch der Schlüssel um die Frage zu beantworten “Warum erlaubt Allāh Leid und Übel?“. Würden wir diese Frage zu einem Menschen stellen, so wäre dies die Ermittlung zum Motiv, das ihn bewegt hat, dies oder jenes zu tun. Aber Allāh wird durch nichts motiviert, aus dem einfachen Grund, da Er schon perfekt ist, die Zunahme an Perfektion nicht braucht, sodass Ihn ein Streben danach (nach der Perfektion) zum Handeln motiviert. Sanusi erwähnt in seinen bekannten Grundlagen, dass Allāhs vollkommene Unähnlichkeit mit den Geschöpfen ausschließt, “dass Er Motive hätte, sei es im Handeln oder Beschlüssen” (vgl. Al-Sanusiyya (1), S. 25). Daher ist das “Warum?” logischerweise als Erörterung von Allāhs Motiven bedeutungslos, obwohl es zur Nachforschung über gewisse Aspekte Seiner göttlichen Weisheit, welche unser Verstand erfassen kann, Sinn ergibt. Was aber, wenn wir sie nicht erfassen können?
Weisheit bedeutet aber auch, Gott als Gott und Mensch als Mensch anzuerkennen.

Kein Mensch kann mehr als einen unendlich kleinen Teil des Gesamtwissens umfassen, welches allein einen ganzen Maßstab von Seiner Perfektion und Gerechtigkeit füllen würde. Sir Walter Scott berichtet, dass Napoleon einst meinte - da er der Eroberer der Welt war - es sollte sich für ihn nicht als schwer erweisen, eine Kutsche, bespannt mit temperamentvollen Pferden, zu meistern, obwohl er eigentlich von einem Kutscher chauffiert wurde. Er bestieg also den Platz, nahm die Peitsche, und fuhr mit Kaiserin Josephine und anderen als Passagiere mit dem Gefährt los, welches er überschlug und einen gefährlichen Sturz samt schweren Verletzungen davon trug. Seine einzige Bemerkung nachher war: “Ich glaube, jeder Mann sollte sich auf sein Handwerk beschränken.” (vgl. Life of Napoleon, (16), 9.238). Was Theodizee betrifft, so ist der einzige, der über die Perfektion Gottes im Erschaffen von allem urteilen kann, nur Gott. Der Mensch ist nur ein Teil und kann auch nur einen Teil wissen. Unsere eigene Lebenserfahrung lehrt uns “Nenne nichts ein Unglück, so lange du das Ende davon nicht gesehen hast”. Hier sagt der Muslim: “Unsere Genüge ist Allah, und ein herrlicher Beschützer ist Er.” (Qur´ān, 3:173). Dies war nie als einfaches Wort gedacht, sondern auch als ein Zustand, entstanden aus der Nähe zu Allāh, welche alles Vertrauen in Seine Weisheit hinterlässt.

Wenn all diese Schlussfolgerungen wie so viele Gotteslästerungen aus der Gegenwart wirken, dann liegt es nur am Zugriff auf moderne Ansichten der “humanistischen Täuschung” die zuerst vom griechischen Sophisten Protagoras hervorgebracht wurden, welcher gesagt hat: “Der Mensch ist das Maß aller Dinge: derjenigen, die sind, so wie sie sind; Und derjenigen die nicht sind, so wie sie nicht sind.” (vgl. History of Philosophy, (3), 1.87). Wenn in offenbarter Wahrheit Gott der Maßstab des Menschen ist, so ist im Humanismus, wie er in unserer Zeit verstanden wird, der Mensch das Maß allen Wissens, aller Werte und sogar Gottes. Diesem fundamentalen Fehler, der von einer alten Klügelei zu einem Weltethos herangezogen wurde, antwortet die Offenbarung: “Aber es ist wohl möglich, dass euch etwas missfällt, was gut für euch ist; und es ist wohl möglich, dass euch etwas gefällt, was für euch übel ist. Allāh weiß, ihr aber wisset nicht.” (Qur´ān, 2:216).

 

6. DIE GÖTTLICHE WEISHEIT IN LEID UND ÜBEL

Theodizee scheitert nicht nur, weil die humanistische Täuschung eine Analogie zwischen begrenztem Menschlichen und unbegrenztem Göttlichen macht, sondern auch weil ihrer grundlegenden Aussage “Jemand, der gut und gerecht ist, würde kein Leid und Übel zulassen, könnte er es verhindern” durch viele Beispiele der Weisheit Allāhs, Gerechtigkeit, und Güte in der Schöpfung, die auch Leid und Übel beinhaltet, widersprochen wird, von welchen die folgenden die offensichtlichsten sind.

Die nächste Welt

Der Wert von eins hoch unendlich nähert sich null. Dementsprechend tendiert die Zeit, die man in dieser Welt verbringt, zum unbedeutenden, während hingegen in der nächsten Welt jeder von uns realisieren wird, dass “Ihr verweiltet nur ein weniges” (Qur´´ān, 23:114). Allāh hat die Geschichte eines jeden einzelnen menschlichen Wesens in der kreativen Theophanie von “Rahman”, der Erbarmer, im größeren Kontext der Ewigkeit, der besonderen Theophanie von “Rahim”, der Allbarmherzige, für jene, die Seine wahren Diener in dieser Welt waren, gelegt. Die Ewigkeit des nächsten Lebens füllt den wahren Maßstab und Kontext des vorübergehenden Leides dieses Lebens auf, welche im Vergleich verschwindend klein sind.

Rumi alludiert auf diese “globale Antwort” des Leidens in seiner Parabel des Bäumchens inmitten des blätterlosen Winters, wie es zittert und zu sich selbst über die Misere des schneidenden Windes und der Kälte murmelt, unfähig zu denken, warum Gott so etwas zulassen sollte. Die Antwort kommt letztlich in Form des warmen und grünenden Frühlings. Im Entwicklungsverlauf des Lebens und Jenseits eines Gläubigen ist die Ankunft des Frühlings eine immer bleibende.

Die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits

Die Bedeutung von Freud und Leid in dieser Welt wird vor der nächsten ins Nichts dahinschwinden, nicht nur quantitativ aufgrund ihrer Ewigkeit, sondern auch qualitativ aufgrund ihrer Natur. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte:

“Die reichste Person in dieser Welt, die für die Hölle bestimmt ist, wird am Tage des Gerichts vorgeladen, einmal in das Höllenfeuer getaucht und dann gefragt werden: "Oh Sohn Adams! Hast du jemals etwas Gutes gesehen, hast du jemals Glückseligkeit genossen?" Er wird sagen: "Bei Allāh! Niemals, oh mein Herr!" Dann wird die ärmste Person in dieser Welt, die für das Paradies bestimmt ist, gebracht und einmal in (die Wonne des) Paradieses getaucht und dann gefragt werden: "Oh Sohn Adams! Hast du jemals Leid gesehen, hast du jemals Armut erlebt?" Er wird sagen: "Bei Allāh! Ich habe niemals Leid gesehen und Armut erlebt.” (vgl. Muslim)

Sie lügen nicht, aber mit ihrem Zeugnis ist gemeint: nichts in dieser Welt kann als “Freude” oder “Leid” im Vergleich zur nächsten bezeichnet werden.

 

Freude und Leid als Zeichen

Andererseits sind die Freuden und Leiden dieser Welt, wenn sie im Angesicht der Ewigkeit schwinden, in den menschlichen Herzen in Bezug auf Hölle und Himmel unglaublich bewegend. Abu Ali Rudhabari pflegte zu sagen: “Was Er durch Seine Gnaden an Segnungen manifestiert hat, deutet darauf hin, was Er erst von Seinem Edelmut verbirgt.” Die Erfahrungen jener mit “Ma'rifa” (Erkenntnis) in dieser Welt sind nichts weiter als ein Vorgeschmack der Unermesslichkeit der Schönheit von der Vision Gottes in der nächsten. Krankheit ist ihrerseits eine qualvolle Geduldsprobe, vor allem psychologisch, da sich viele von uns sehr stark mit ihren Körpern identifizieren. Jedoch verstehen wir durch Schmerzen und Mühen, wie wenig wir endloses Leid ertragen könnten, und es lehrt uns Allāh anzuflehen, uns vor dem Höllenfeuer zu beschützen und dient somit als ein Mittel unserer Erlösung. So wie Ibn 'Ata Illah sagte: “Wann immer Er deine Zunge mit einer Bitte gelöst hat, wisse, dass Er dir geben will.” (vgl. Hikam (8), 37:102)

Gebet

Von zentraler Bedeutung für das Gebet ist die Anflehung des Angebeteten. “Sprich: «Was kümmert Sich mein Herr um euch, wenn ihr nicht (zu Ihm) betet?” (Qur´an, 25:77). Ungleich Freunden, Verwandten und so ziemlich jedem, liebt es Allāh, gefragt zu werden und mag es nicht, wenn dem nicht so ist. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: “Wahrlich, Anflehung ist das, was Gebet ist”, und dann rezitierte er: “Euer Herr spricht: “Betet zu Mir; Ich will euer Gebet erhören. Die aber, die zu stolz sind, um Mich zu verehren, die werden in die Hölle eintreten, erniedrigt.” (Qur´ān, 40:60) (vgl. Ahmad (9), 4.271:18.286)
Als Poor Richard gesagt hat: “Gefahr ist Sauce fürs Gebet”. Wäre es nicht wegen der Probleme, Ängste, Unzulänglichkeiten und Schmerzen, die einem Menschen widerfahren, so bliebe er fern der Tür göttlicher Freizügigkeit, und er würde einen enormen Anteil vom Gebet, welches ihm in dieser Welt und der nächsten nützt, missen.

 

Überwindung des Leidens

Obwohl es Ihm möglich ist, hat Allāh die ganze Menschheit nicht im Vorhinein im Paradies erschaffen, sondern war gewillt, ihre perfekte und endlose Glückseligkeit dadurch zu vollenden, dass mit dem Wissen durch Seine Gnade, sie alles Leid, Entbehrung und Übel, für alle Zeit überwinden können. “Allāh hat den gläubigen Männern und den gläubigen Frauen Gärten verheißen, die von Strömen durchflossen werden, immerdar darin zu weilen, und herrliche Wohnstätten in den Gärten der Ewigkeit. Allāhs Wohlgefallen aber ist das größte. Das ist die höchste Glückseligkeit.“ (Qur´ān, 9:72). Er hätte alle Seelen als Muscheln auf einem Strand erschaffen können, die zufrieden Nahrung aus einem endlos friedlichen Meer filtern. Aber dies so zu tun wäre ohne jegliche Herausforderung, Leid, Reinigung oder Bemühung, oder irgendeine andere Wahrheit, welche der unverwechselbaren Menschlichkeit zusteht, die Allāh zu unserer besonderen Gabe gemacht hat.

Freiheit

Das meiste Leid und Übel in dieser Welt kommt von der Grausamkeit des Menschen gegenüber dem Menschen, die Allāh nicht akzeptiert, und manchmal in dieser, manchmal in der nächsten Welt bestraft. Der Mensch hat dafür keine Entschuldigung, denn es wurden Gesandte geschickt, die uns Anstand und Gutherzigkeit beibrachten. Aber das Geschenk an den Menschen, in der Lage zu sein zu entscheiden wie er seinen Nächsten behandeln will, gut oder schlecht, ist seine Freiheit, eine Perfektion die einem jeden von uns Allāh in Seiner Weisheit geschenkt hat.

Die Erhabenheit menschlicher Entscheidung

Allāh hat die Einsätze menschlicher Existenz auf einmal auf den höchstmöglichen Wert und die schlimmste Gefahr, durch die Tatsache des Jüngsten Tages, mitsamt seinen ewigen Konsequenzen, angehoben. Obwohl menschliche Handlungen und das Leben begrenzt sind, so sind ihre Konsequenzen aufgrund der menschlichen Bestimmung unbegrenzt, sobald er sich entschlossen hat, wie er für immer Handeln will, sollte er die Möglichkeit dazu haben. Der verhärtete Atheist, der Gott als sinnlosen Aberglauben ablehnt und nicht vorhat jemals zu glauben und sich zu ändern, wird, wenn er stirbt so vergolten, wie die Länge seiner Absicht, für immer - aus Allāh´s Gerechtigkeit heraus. Der Gläubige, der Allāh liebt und dementsprechend handelt, hat nicht die Absicht sich jemals zu ändern und so wird er, wenn er stirbt, ebenfalls nach seiner Absicht vergütet, für immer - aus Allāhs Gnade heraus.

Ewiges Höllenfeuer ist eine grauenhafte Bestrafung! Aber vorgewarnt heißt vorbereitet, und nach der Offenbarung ist es lediglich das was deren Bewohner für sich selbst entschlossen haben: “Lies dein Buch. Heute genügt deine eigene Seele als Rechnerin wider dich.” (Qur´ān, 17:14). Die existenzielle Bedrohung durch ein Feuer hat viele davon abgehalten bösartiges Übel anderen in dieser Welt zuzufügen, jedoch habe ich noch nie gehört, dass dies durch eine intellektuelle Diskussion über Ethik der Fall gewesen sei. Die Hölle ist eine Gefahr, aber eine, die als Gnade für jemanden fungiert, der sensible Entscheidungen treffen muss. Wie die Endlosigkeit des Paradieses, ist ihr Effekt die Erhöhung des Wertes eines jeden Moments menschlichen Lebens in dieser Bleibe, aus Allāhs Weisheit heraus.

 

Angst und Hoffnung

Abu 'Ali al-Rudhabari sagte: “Das Nützlichste der Gewissheit ist jenes, das die Wahrheit in deinen Augen erhöht, und alles außer Ihm darin verschwinden lässt, und Angst und Hoffnung in dein Herz säht.” Shaykh Abd al-Wakil sagte, dass Angst und Hoffnung die zwei Flügel eines Gläubigen seien, ohne die er nicht aufsteigen könnte. Beide rufen Anflehung hervor, und Allāh liebt es gefragt zu werden. Vielmehr noch: Angst und Hoffnung sind verpflichtend.

Imam Taqi al-Din al-Subki sagt: “Die spirituelle Position (Maqam) eines jeden Menschen ist entsprechend seines Zustandes (Hal), und sein Zustand entsprechend seines Wissens über das Göttliche (Ma'rifa). Die Menschen unterscheiden sich immens darin, und keiner ist darin besser als der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil), während die Menschen nach ihm diesbezüglich ihrem Niveau entsprechend sind, manche von mehr, andere von wenig besessen. Angst ist verpflichtend: Allāh, der Erhabene, sagt: “Fürchtet Mich, wenn ihr Gläubige seid!” (Qur´ān, 3:175), und Er, der Erhabene, sagt: “Darum fürchtet nicht die Menschen, sondern fürchtet Mich!“ (Qur´ān, 5:44). Und Hoffnung ist verpflichtend, weil sie der Gegensatz zur Verzweiflung ist, die verboten ist: Allāh, der Erhabene, sagt: “denn an Allāh´s Erbarmen verzweifelt nur das ungläubige Volk” (Qur´ān, 12:87) und Er, der Erhabene, sagt auch: “Und wer könnte verzweifeln an der Barmherzigkeit seines Herrn, wenn nicht die Verirrten?” (Qur´ān, 15:56). (vgl. Fatawa al-Subki (18), 2.556)

Auf dem Weg des Sufis müssen vom Reisenden zuerst Angst und Hoffnung realisiert werden. Die Möglichkeiten von beiden, Leid und Befreiung davon sind integrale Bestandteile des Aufstieges durch Dikr, in welchem Angst (khawf) und Hoffnung (raja) erst in Ehrfurcht (hayba) und innige Liebe (uns) umgewandelt werden, dann in Majestät (Jalal) und Schönheit (Jamal), dann Auslöschung und zuletzt das Dasein im Majestätischen (Al-Jalil) und Schönen (Al-Jamil) selbst.

Angst und Hoffnung in diesen sukzessiven Stufen verbleiben die Zwei Flügel des Reisenden, denn die in größter Liebe zu Ihm, verbleiben die Ängstlichsten, Ihn zu beleidigen und von Seiner Präsenz ausgeschlossen zu werden. So wie Abu Madyan dies ausgedrückt hat: “Präsenz mit Ihm ist Himmel, und Abwesenheit von Ihm ist Hölle.” Die Möglichkeiten der Bestrafung und des Leidens bleiben Ansporn auf dem Weg spiritueller Errungenschaft, selbst auf ihren höchsten Stufen, bis der Reisende beide Beine im Paradies hat und selbst das Glück der Umwandlungen erkennen kann, die Allāh in ihm getätigt hat.

 

Bestrafung für Sünde

Viel des Leides die der Mensch erfährt, ist Vergeltung für Ungehorsam. Allāh sagt: “Was euch an Unglück treffen mag, es erfolgt ob dessen, was eure Hände gewirkt haben. Und Er vergibt vieles.” (Qur´ān, 42:30) – dies ist die allgemeine Regel, welche jedoch in einigen oben und unten erwähnten Themen Ausnahmen beinhaltet. Gelehrte bekräftigen, dass jede Regelung heiligen Rechts zu unserem Nutzen offenbart wurde, nicht zu Allāhs. Die Auswirkungen von Richtig und Falsch sind viel bedeutender in der nächsten Welt, wie es der obige Vers jedoch deutlich macht, können sie manchmal in dieser Welt bestraft werden. Diejenigen die Allāh liebt, wendet eine Bestrafung zurück zum Weg des Tawfiq und Gehorsams. Für jene, denen Allāh zürnt, wird Ungehorsam dadurch bestraft, dass sie noch mehr ungehorsame Handlungen vollbringen. Wie es der frühe Mystiker Muzayyin einst sagte: “Eine Sünde die auf die nächste folgt, ist Bestrafung für die erste, und eine gute Tat die der anderen folgt, ist Belohnung für die erste.”

Eine Sünde die sehr oft unvorhergesehenes Unglück bringt ist das Enthüllen der Sünden vor anderen. Allāh hat uns befohlen alle Sünden zu bedecken, mit Ausnahme jener, die anderen Schaden könnten. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: “Wer auch immer die Sünden eines Muslims bedeckt, dessen Sünden wird Allāh in dieser Welt und in der nächsten bedecken.” (vgl. Muslim (14), 4.2074:2699). Das umfasst auch die eigenen. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: “Allen in meiner Gemeinschaft wird vergeben, außer denjenigen, die Sünden öffentlich begehen. Wahrlich, unter offener Unanständigkeit versteht man einen Mann, der eine Handlung bei Nacht verrichtet und am nächsten Morgen, nachdem Allāh verborgen hat, was er tat, sagt: ´O so-und-so. Letzte Nacht tat ich das-und-das.´ Die Nacht ging vorüber und der Herr verbarg was er tat, und als der Morgen kam, hat er Allāhs Vorhang zur Seite gelegt.” (vgl. Bukhari (2), 8.24:6069)
Im Islam ist das Erwähnen einer Sünde selbst eine. Wie oft war eine Person nicht in der Lage zu widerstehen einem Freund oder dem Ehepartner die Sündhaftigkeit, die sie im vorigen Leben begangen haben, zu erzählen, und Allāh bestrafte sie durch Abneigung und Missachtung im Herzen des anderen, welche niemals vergessen werden können! Es gibt keine Baraka (Segenskraft) im Verbotenen.

Es gibt Sünden, die offensichtlich in dieser Welt vor der nächsten bestraft werden, so wie Stolz, Misshandlung der Eltern oder das Unterdrücken anderer. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: “Hütet euch vor dem Gebet des ungerecht Behandelten, denn es gibt keinen Schleier zwischen ihm und Allāh.” (vgl. Bukhari (2), 3.169-70: 2448)
Auch die Vernachlässigung unserer Verwaltung der natürlichen Ordnung wird durch eine Welt bestraft, in der wir nicht essen, trinken oder atmen können, ohne dass wir unseren eigenen Schmutz aufsaugen. “Verderbnis ist gekommen über Land und Meer um dessentwillen, was die Hände der Menschen gewirkt, auf dass Er sie kosten lasse die (Früchte) so mancher ihrer Handlungen, damit sie umkehren.” (Qur´ān, 30:41)
 

Das Beispiel des Geduldigen

Unschuldige werden manchmal mit Leid getestet, damit ihr spiritueller Rang manifestiert wird, oder damit durch ihr Verhalten andere inspiriert werden. Die Propheten zum Beispiel (Friede und Segen mit ihnen) waren Beispiele an die Menschheit, und ihr Leid war größer als das von allen anderen – nicht um sie zu bestrafen oder zu reinigen, sondern um die Menschheit Geduld und Tapferkeit zu lehren. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) wurde gefragt: “Wer wird am meisten unter den Menschen geprüft?” und er antwortete: “Die Propheten, dann jene, welche ihnen ähnlich sind, dann ihnen die Nächsten. Ein Mann wird entsprechend seinem Glauben geprüft: wenn sein Glaube stark ist, ist die Prüfung groß. Während es aber im Glauben Schwäche gibt, wird er entsprechend seinem Glauben geprüft. Drangsal bleibt mit dem Diener bis sie ihn sündenfrei und ohne einen einzigen Fehler auf der Welt wandelnd lässt.” (vgl. Tirmidhi (19), 4.601-2: 2398)
Dies ist jedoch wahrscheinlich die Erläuterung der Ausnahme - Beschwernis in den Leben der Rechtschaffenen - denn die Regel, welche eher das Bewahren davor ist. Denn es ist Sunna Allāh danach zu bitten frei von Leid zu sein. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte zu Abu Bakr: “Frag Allāh nach Wohlergehen (Mu'afah), denn niemanden wurde nach Gewissheit besseres gegeben als Wohlergehen.” (vgl. Ahmad (9), 1.2:5)

 

Das Beispiel der Anderen

Ein Mensch lebt in einer Gruppe, denkt und spricht in Symbolen, die ihm von einer Gruppe beigebracht werden, und zieht Nutzen aus einem größeren Gemeinwesen, sowohl in der Breite, durch die Gemeinde von Individuen und Nationen heutzutage als auch in der Länge, durch die einander folgenden Generationen, die vorher verschwanden und kulturellen und zivilisatorischen Reichtum zurückgelassen haben - bis in unsere Zeit hinein. Wir alle sind nicht nur durch unser eigenes Leben erzogen, sondern auch durch das der Anderen - seien es Individuen, Gruppen oder ganze Völker. Die Veredelung und Erziehung von “Rabb al-'Alamin”, oder “Erheber der Welten”, umfasst sowohl Kollektive als auch Individuen. Allāh lehrt uns durch Musterbeispiele über vorige Zivilisationen, welche Er warnte, welchen Er Leitung gesandt hat, welche spotteten und welche dann Zerstörung traf, sodass wir – egal wie groß wir uns als Nation, Kriegstreiber, Gemeinschaft wissenschaftlicher Erklärungen oder als Zivilisation noch fühlen mögen: “Wer ist stärker als wir an der Macht?” (Qur´ān, 41:15) sind die berühmten letzten Worte eines jeden von ihnen, der sie ausgesprochen hat. “Konnten sie denn nicht sehen, dass Allāh, Der sie erschuf, stärker an der Macht war als sie?“ (Qur´ān, 41:15)

Bescheidenheit vor der Allmacht ist einfache Bewusstwerdung, “doch von allen Dingen ist der Mensch am streitsüchtigsten” (Qur´ān, 18:54) und ohne die Lehrbeispiele voriger Nationen würden dies viele nicht verstehen.

Hierbei gibt es keine Ungerechtigkeit, denn wenn “Allāh einem Volk Züchtigung herabsendet, dann trifft es jeden unter ihnen; und danach werden sie entsprechend ihrem eigenen Handeln emporgehoben.” (vgl. Bukhari (2), 9.71:8108). Das Beispiel von anderen, deren Stolz und Irrsinn Zerstörung mit sich brachte, ist eine mächtige Lektion dafür ihren Weg nicht zu beschreiten, und daher Glück und Gnade für jene die gewillt sind zu lernen.

 

Die göttliche Großzügigkeit

Das Leiden, das gute Menschen in dieser Welt erleiden, gehört zu den Wohltaten Allāhs, welcher ihnen dadurch nützt. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat gesagt: “Keinem Muslim widerfährt Schwäche, Krankheit, Besorgnis, Kummer, Ärger oder Schwermut – selbst wenn es nur ein Dorn ist, der ihn sticht – ohne dass Allāh dadurch etwas von seinen Sünden tilgt (vgl. Bukhari (2), 7.148-49: 5642). Er sagte einst über die Zufriedenheit eines Muslims mit dem Schicksal, sei es gut oder schlecht: “Ein Gläubiger ist wie angehendes Getreide: von wo auch immer der Wind weht, er schaukelt, und wenn er aufhört, wird er wieder stärker: er beugt sich mit Bedrängnis. Und ein böser Mensch ist wie eine kräftige Zeder, steht still, bis Allāh sie auseinander bricht, wie Er es will. (ibid., 5644). Der Gesandte Allāhs sagte auch: “Wem Allāh Gutes will, den prüft er mit etwas.”
(ibid., 5645) – das liegt daran weil: “Allāh liebt die Standhaften.” (Qur´ān, 3:146). Aus diesem Grund sagte er auch (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil): “Wie seltsam ist die Angelegenheit des Gläubigen, denn alles was ihm widerfährt ist gut: wenn ihm Gutes widerfährt, so zeigt er Dankbarkeit, und das ist das Beste für ihn; und wenn ihn etwas Schlechtes trifft, so übt er sich in Geduld, und das ist das Beste für ihn.” (vgl. Muslim, (14), 4.2295: 2999)

Diese Gnade wird in Gruppen genauso oft augenscheinlich wie bei Individuen. In der Naturwelt ist das Bewusstsein über Schmerz, sofern er ab einem bestimmten Punkt unerträglich wird, von evolutionärem Nutzen und für Individuen anpassungsfähig, indem es sie lehrt, was es zu vermeiden gilt. Wenn das Individuum den Tod erleidet, so kommt die Gattung durch natürliche Selektion weiter. In der Abfolge von Nationen und Zivilisationen gibt es eine kulturelle Selektion von Gewohnheiten, Institutionen, und Erfindungen (zum Beispiel: die Schrift), die zumindest in einigen Aspekten vorteilhafter und nützlicher ist als zuvor. “…das aber, was den Menschen nützt, das bleibt auf der Erd.“ (Qur´ān, 13:17). Wenn Unschuldige leiden und missbraucht werden, so treten Gesetze in Kraft. Wenn sie von Krankheiten getroffen werden, werden neue Heilmittel entwickelt. Von den Gattungen, die mit ihrer Umwelt auf komplexe Art und Weise interagieren, kann die Natur nur wenige ohne Schmerzempfinden vorweisen. Es ist ganz einfach viel zu vorteilhaft.
 

Ausdauer durch Veränderung

Ausdauer steigt durch Differenzen und Widrigkeiten. Sidi 'Ali al-Jamal, der Shaykh von Mawlay al-'Arabi al-Darqawi, sagt in seinem Buch: “Wisse auch, dass die Weisheit (Hikma: hier der Grund, der etwas zur bekannten Handlung bringt), die allen Geschöpfen zugrunde liegt, auch dem Menschen zugrunde liegt, nämlich in den Veränderungen. Allāh hat das Wohlergehen und die Erhaltung des Menschen durch den Wechsel bestimmt; Und Allāh hat den Schaden und die Zerstörung des Menschen durch den Verbleib in einem Zustand anstelle eines anderen bestimmt. Und das gilt für alle Geschöpfe. Sie und der Mensch sind dasselbe: so ist es in materiellen wie in immateriellen Dingen. Allāh ist Weise und Schön und alles was Er erschaffen hat, ist von unübertroffener Weisheit und Schönheit.

Alles, was er für dich geschaffen hat, in dir selbst oder in allem Sein, ist für dich von dringendem Bedarf. Und Er sagte: “…doch sie wollten nicht ablassen, uneins zu sein.” (Qur´an, 11:118). Wechsel ist daher das Mittel zum Überleben des Menschen und zum Überleben aller Geschöpfe; Mangel an Wechsel bedeutet die Zerstörung des Menschen und aller Geschöpfe. Daher kannst du erkennen, dass so lange der Mensch, wie alle Geschöpfe, in seiner Nahrung, seinen Worten, in dem was er hört, sieht oder riecht, in seinem Gehen oder Sitzen, seinen Handbewegungen oder dem Ruhen jener, in seinen Hüftbewegungen oder dem Ruhen derselben, Veränderungen erlebt – wächst er in seiner spirituellen und physischen Gesundheit.

So lange er jedoch auf eine Sache statisch fixiert bleibt, ohne ihr Gegenteil, so erfasst ihn der Verfall bis er auf einem Grad festgefahren bleibt. Und das geht so lange, sollte er lange genug auf seine Fixierung bestehen und darin verbleiben, bis er verkümmert und letztendlich verschwindet. Wann immer er sagt “Das passt” oder “Das passt nicht”, ignoriert er die Weisheit Gottes, sowohl in sich selbst als auch in anderen. Die Weisheit beinhaltet die Gesundheit der Körper, der Seelen und aller Geschöpfe. Und so ist es auch mit dem Wachstum: Es gibt keinen ohne Veränderungen. Oder mit dem Nachlassen: Es gibt kein ohne Mangel an Wechsel – egal ob in allen Geschöpfen oder im Menschen.“ (vgl. Ma'ani al-Insan (10), 181-81)

Stillstand ist dem Menschen nicht natürlich. Ohne Schlaf als auch Wachsein, Hunger und Sättigung, Schmerz und Erleichterung, Trauer als auch Glück, würde der Mensch in dieser Welt nicht gedeihen.

 

Impulse des spirituellen Wachstums

Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: “Geduld ist ein unvergleichliches Licht.“ (vgl. Muslim (14), 1.203:223) und manche Sufis wie die Malamatiyya, oder Befolger des Weges des Tadels, betrachten Geduld als psychologischen Schmerz, insbesondere jenen des Spottes, Tadels und Hohnes durch andere, ein Mittel um spirituelle Unehrlichkeit zu stutzen. Die Shuyukh dieses Weges, Hamdun v. Nishapur und andere, bemerkten, dass das Herz unglaublich hohen Wert darauf legt, was andere denken, und dass die Liebe zu Ansichten anderer des Öfteren ein Grund für die Unehrlichkeit gegenüber Allāh ist. Sie fanden heraus, dass das Wegbrechen der üblichen Gedankenstrukturen und die daraus resultierende Hilfslosigkeit und Betroffenheit darüber, alleine gelassen zu werden oder keine Hilfe zu haben – außer die Gottes – ein Mittel war, um eine Tür zwischen Gott und der Seele zu öffnen. Mawlay al-Darqawi wandte dies methodisch an seinen Schülern an, um die Erkenntnis herbeizuführen, dass es keine Zuflucht vor Allāh gab - außer zu Ihm. Wenn Schüler ihn als Shaykh annahmen, befahl er ihnen, all ihren Besitz abzugeben und dann von Tür zu Tür betteln zu gehen, besonders in Nachbarschaften, wo sie sehr gut bekannt waren und sehr wahrscheinlich auf Beleidigungen und Erniedrigung stoßen würden. Es war sehr effektiv um Egos zu brechen, und Darqawi füllte Nordafrika mit Awliyā (Gottesfreunde) und Wissenden.

Ibn Ata Illah sagte: “Nichts spricht mehr für dich als die schiere Notwendigkeit. Und nichts ist schneller im Herbeibringen göttlicher Geschenke als Erniedrigung und Not.“ (vgl. Hikam (8), 43:129) Ich selbst erfuhr etwas von dieser Baraka, als ich 1980 nach Jordanien zog. Ich habe auf See als Fischer gearbeitet, war groß und stark, wie ich dachte – bis mich einige Jahre mit chronischem Leberleiden, welches nie genau identifiziert wurde, so sehr schwächte, dass ich keine 50 Meter gehen konnte ohne vollkommen erschöpft zu sein. Nur wenige Sachen haben mir jemals so viel Nutzen gebracht wie diese dunkle und anstrengende Phase, nach welcher ich letztlich feststellte, dass Allāh allein die Kontrolle hat und der “Mensch wahrlich schwach erschaffen wurde” (Qur´ān, 4:28). Abu Hasan al-Shadhili hat dies so oft auf seinem eigenen Weg erlebt, sodass er sagte: “Bei Allāh, ich habe niemals Triumph außer in Erniedrigung gesehen.” Es ist klar, dass auf dem Weg der Mystik die dunkle Nacht der Seele sehr oft dem Aufgang der Erleuchtung vorausgeht. Leid ist einfach Teil der Geschichte.

 

Prüfung

Leid ist eine spirituelle Prüfung von Allāh, welcher sagt: “…und Wir stellen euch auf die Probe mit Bösem und Gutem als eine Prüfung; und zu Uns sollt ihr zurückgebracht werden.” (Qur´ān, 21:35). Zweifel an der Gnade Allāhs, Verzweiflung über das Schicksal, die Waswasa (Einflüsterungen) des Teufels, indem er die Frage, die wir hier im Herzen behandeln, einpflanzt und die Antwort verschleiert – all diese Leiden sind ein Test von Allāh. Sufis sagen, dass sich Menschen in vier Kategorien in Bezug auf ihre Prüfungen gliedern.

Wenn sich jemand in der Prüfung als geduldig erweist und sie durchlebt, dann bedeutet es, dass man sie besteht. Allāh sagt: “Wahrlich, den Standhaften wird ihr Lohn gewährt werden ohne zu rechnen.” (Qur´ān, 39:10)

Wenn man Nutzen aus der Prüfung zieht indem man lernt, sich ändert und Erfahrungen sammelt, welche zukünftige Prüfungen verhindern werden, dann ist dies die Charakteristik des Derwisch, dessen Weg vom Nutzen seiner guten und schlechten Taten abhängt. Er schöpft Nutzen aus dem Guten, indem er Allāh dafür dankt und nicht gleichgültig zurückkehrt. Er zieht Nutzen aus seinem Schlechten durch ein gebrochenes Herz, Reue und dadurch, dass er nie wieder dorthin zurückkehrt. Er zieht auch Nutzen aus dem Schlechten der Anderen, indem er es mit seiner Zunge, seiner Hand oder einem Gebet in seinem Herzen ändert; Und wenn er es nicht ändern kann, so stellt er doch fest, dass es ein Übel ist, welches von Allāh als Glaube an die Lehren der Propheten (Friede und Segen sei mit ihnen) belohnt wird. Ein Sufi ist jemand, der nicht nicht profitieren kann, so lange er den Weg beschreitet.

Wenn jemand mit Allāh zufrieden ist, weil Er ihn mit einer Prüfung gesegnet hat, und sich anstrengt, um Sein Wohlwollen zu gewinnen, dann bedeutet diese Prüfung ein spirituelles Wachstum. Es bedeutet ebenfalls, dass man von den Awliyā ist, und mehr noch, auf einer löblichen Haltung unter ihnen, weil Allāhs Prüfungen selten in etwas anderem kommen als in dem was einem am Wertvollsten ist – und diese sind bei denjenigen mit höherem Rang entsprechend schwerer. Shibli pflegte zu sagen: “Allāhs Erhöhung der spirituellen Stufen Seiner Diener ist ihrem Leid entsprechend: Hätte Er auf die Awliyā nur ein Ameisengewicht dessen, was Er den Propheten auferlegt hat, gegeben, so würden sie dahin schmelzen und wären von allem abgeschnitten.”

Zuletzt, wenn jemand über eine Prüfung wütend ist und Groll gegenüber Allāhs Entscheidung hegt, dann bedeutet es, dass man durchfällt, so lange bis man dem Teufel und dem Ego nicht seinen Rücken zuwendet, den Weg der Reue beschreitet und zu einer der erwähnten Kategorien zurückkehrt.
 

Das Leid der Anderen

Das Leid der Anderen, zum Beispiel durch Naturkatastrophen, Krankheiten oder aufgrund der Unmenschlichkeit anderer, ist nur temporär und eine Glücksquelle in der nächsten Welt, der unendlichen Sphäre von Allāhs Namen “Al-Rahim”, dem Allbarmherzigen. Kinder die sterben finden ewige Glückseligkeit.

In dieser Welt ist das Leid der Unschuldigen ebenfalls eine Prüfung für die Danebenstehenden und Zuseher, die unschuldig bleiben, sofern sie nichts tun können, um es ihnen zu erleichtern. Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: “Ein Gläubiger ist nicht jemand der ruhig schläft während sein Nachbar hungert.” (vgl. Mustadrak (5), 4.167). Gelehrte des heiligen Rechts erwähnen, dass manche Pflichten im Islam von “bestimmter” Menge sind, so wie das fünfmalige Gebet, das Fasten im Monat Ramadan, die Ḥaǧǧ einmal im Leben zu machen – während andere gleichfalls verpflichtend, aber von “unbestimmter” Menge sind, wie die Zusammenarbeit mit anderen in Hinsicht auf gute Taten, das Versorgen der Hungrigen, das Helfen der Bedrängten, oder während eines Unglück Erleichterung zu verschaffen. Jemand, der einem Leidenden helfen kann, indem er sein Geld, seine Zeit, seinen Einfluss, seinen Ratschlag, oder wenn nichts sonst, seine Gebete gibt, muss dies auch tun. Aus Allāhs Weisheit heraus ist auch dies eine Prüfung, “…auf die Probe mit Bösem und Gutem als eine Prüfung.” (Qur´ān, 21:35)
 

Aufwachen!

Unser Schöpfer hat den Menschen davor gewarnt, sein Herz an diese Welt zu hängen, in der Sprache Seiner Propheten (Friede und Segen sei auf ihnen allen) in den Offenbarungen aller Zeiten und Völker, und auch in dieser, wo Er sagt: “Dieses irdische Leben ist nichts als ein eitles Getändel und ein Spiel; die Wohnstatt des Jenseits aber – das ist Leben fürwahr, wenn sie es nur wüssten!” (Qur´ān, 29:64) Abdullah Ibn Umar sagt: “Der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) nahm mich bei den Schultern und sagte: ´Sei in dieser Welt wie ein Reisender, oder Wanderer, der einen Weg entlang geht.´” (vgl. Bukhari (2), 8.119:6416).

Seine Hoffnungen auf etwas zu setzen, was verschwinden muss, ist Mangel an Realitätssinn. So wie Glühbirnen, welche die Hersteller perfekt produzieren könnten, indem sie ein makelloses Vakuum darin erzeugen, sodass das Innenleben nicht oxidiert, die Birnen daher nie ersetzt werden müssten. Aber sie lassen eine Spur Sauerstoff zurück, damit in der Zukunft mehr Glühbirnen gebraucht werden. So ist auch diese Welt von ihrem Schöpfer absichtlich so geschaffen worden, dass sie den menschlichen Erwartungen zu kurz kommt. Das ist vom “Lutf”, oder der “gesamt-feinsinnigen-liebenden-Güte” von “Al-Latif”, Dem Feinfühligen und Allgütigen gegenüber Seinen Dienern. Würden der Schmerz, die Enttäuschung und das Elend dieser Welt weniger andauern, so würden die Menschen die unendliche Schönheit des Geliebten und den Aufenthaltsort Seiner grenzenlosen Freigiebigkeit vergessen. Ibn 'Ata-Illah sagt: “Er wusste, du wirst nicht einfach nur den Rat annehmen, daher ließ Er dich davon kosten, um es einfacher für dich zu machen, es sein zu lassen.” (vgl. Hikam (8) 62:230)
 

Sich dem Schöpfer zuwenden

Leid wird oft durch andere Menschen verursacht, so wie Allāh sagt: “Allein Wir machen die einen unter euch zur Prüfung für die anderen. Wollt ihr denn standhaft sein?” (Qur´ān, 25:20). Allāh prüft die arme Person, indem sie die reiche sieht und sich fragt, warum man nicht auch reich sei, den Kranken dadurch, dass er den Gesunden sieht, Er prüft Ehefrauen mit Ehemännern und Ehemänner mit Ehefrauen, Kinder mit Eltern und Eltern mit Kindern und Lehrer mit Schülern, die vom Weg abkommen. Alle diese Prüfungen unterrichten die geprüfte Person darüber, dass das was sie wirklich wollen, nicht in den Händen anderer Menschen liegt, sondern nur bei Allāh. Ibn 'Ata Illah sagt: “Er hat das Ärgernis nur darum bei ihnen erscheinen lassen, sodass du nicht zufrieden mit ihnen bleibst. Er will dich von allem ermüden, sodass du nicht durch irgendwas von Ihm abgelenkt wirst.” (vgl. Hikam (8), 63:235). Das ist der Punkt all unseren Leides und unserer Enttäuschungen, sei es von uns oder durch andere: Es ist ein Mittel zu Allāh. So wie Shaykh al-Buzidi sagt: “Alles was du willst befindet sich in der Einheit Gottes.”
 

Dankbarkeit für Segnungen

Auf der persönlichen Ebene lehrt uns das Leid, Gott gegenüber für Seine Gaben dankbar zu sein. Ibn 'Ata Illah sagt: “Wer auch immer nicht den Wert von Segen dadurch schätzt, dass er sie hat, wird sie durch den Verlust schätzen.” (vgl. Hikam (8), 56:199) und er sagt: “Wer auch immer undankbar für Segnungen ist, macht sich selbst verantwortlich, diese zu verlieren, während jeder der Dankbarkeit dafür zeigt, sie durch ihre wahren Gurte an sich festgebunden hat.” (ibid.,29:64)
Es wird überliefert, dass der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) einst “seine Familie nach etwas zu seinem Brot gefragt hatte, und sie antwortete: ´Wir haben nichts außer Essig.´ Er fragte nach etwas und begann mit den Worten zu essen: ´Was für eine wundervolle Beilage Essig ist! Was für eine wundervolle Beilage Essig ist!´“ (vgl. Muslim (14), 3.1622:2052) – und er lehrte uns dadurch nicht nur Taktgefühl und Dankbarkeit unter allen Umständen zu zeigen, sondern auch die Sunna des Lobens der allerkleinsten Segnungen. Das letztere war seine unvermeidliche Praxis, nicht aus kindlicher Ignoranz größerer Segnungen, sondern weil jeglicher Segen – wenn wir ernsthafter darüber nachdenken – in der Reihenfolge vorausgesetzt ist, um größeren Segen in seiner Vielfalt genießen zu können, wie zum Beispiel Gesundheit, Leben, Sicherheit, Zeit und Freiheit. Und auch Befreiung von Schmerzen, Bedürfnissen, Unterdrückung, Verletzung, und tausenden anderen Unglücken. Letztendlich heißt das, dass es aus einem konkreten Blickwinkel keine “kleineren” Segen gibt. Ohne Entbehrung würden wir unsere Segen nicht zählen können, was Entbehrung selbst für die meisten von uns zu einem Segen macht.
 

Perfektion der Gnosis (Gotteserkenntnis)

Durch Leid, Verlust und Entbehrung perfektioniert Allāh das empirische Wissen des “Arif” über das Göttliche. Denn Ihn kennen umfasst nicht nur das kennen Seines Seins (dhat), sondern auch das Kennen in Seinen Namen und Attributen, Seinen Urteilen, welche die Beziehungen zwischen existierenden Dingen ordnen und hierarchisieren, und das Kennen in Seinen Handlungen, von welcher die Welt, und alles was sie beinhaltet, die greifbarste ist.

Die Ma'rifa von Sufis ist an der oberen Grenze eines ganzen Kontinuums von Iman, Glauben, und wie es selbst, ist es unterschiedlich im Grade unter jenen, denen es gegeben wurde. Abu Hasan al-Shadhili pflegte in seinen großen Gebeten / Litaneien für “enorme Gnosis” zu bitten (Ma'rifa Wasi'a), ohne suggerieren zu wollen, sie wäre etwas anderes als enorm, aber um die Lücke zwischen menschlichem Wissen – wie großartig sie auch sein mag – und Allāhs eigenem, perfekten Wissens über Sich selbst zu erkennen. Shaykh Abd al-Rahman pflegte dies mit den Worten Ibn Arabis zu sagen, dass “niemand Gott kennt außer Gott”. Doch Abu Hasans Bitten für “enormes Wissen” leitet auch andere in diese Richtung, ihre Ma'rifa in diesem unendlichen Strom noch höher zu erweitern. Eine der vielsagendsten Mittel dies zu tun, ist das Betrachten des Göttlichen in Momenten der Prüfung. Ibn 'Ajiba spornt mystisch angehauchte Leser dazu an, dies anzuwenden indem er sagt: “Jener, der (Allāh) in der Göttlichen Schönheit kennt, aber nicht in der Göttliche Härte oder Majestät, oder wenn ihm gegeben wird und nicht dann wenn ihm genommen wird, oder im Sieg und nicht in der Erniedrigung, in Gesundheit und nicht in Krankheit, im Wohlergehen und nicht in der Heimsuchung, in Reichtum und nicht Armut, in Leichtigkeit und nicht in der Schwere – so eine Person ist ein Lügner.” (vgl. Iqadh al-Himam (6), 489).

Das letzte Wort ist vielleicht so etwas wie eine Hyperbel, denn wenn Allāh jemanden prüft, selbst einen Diener der Ma'rifa hat, so ist es die Natur eines göttlichen Tests, das Individuum an seine äußersten Grenzen zu bringen. Andererseits wäre es kein Test. Während Dr. Marcel Carret Shaykh al-Alawi pflegte, während dieser im Sterben lag, passierte folgendes: als der Shaykh das Bewusstsein verlor, injizierte ihm der Arzt ein Aufputschmittel, welches ihn aus der „Ferne“ zurückbrachte. Der Shaykh erwachte mit Tadel auf seinen Lippen, weil dieser ihn von seinem Geliebten zurückhielt. Carret schreibt:

“...Er öffnete seine Augen und sah mich vorwurfsvoll an. “Warum hast du das getan?” fragte er. “Du hättest mich gehen lassen sollen. Es gibt keinen Grund mich hier zu halten. Wozu soll das gut sein?” “Wenn ich an deiner Seite bin”, antwortete ich, “so ist es weil Gott dies so bestimmt hat. Und wenn Er es so bestimmt hat, war es in Einklang damit, dass ich meine Pflicht dir gegenüber als Arzt erfülle.” “Nun gut dann”, sagte er. “In sha'Allāh (So Gott will).“ (s. A Sufi Saint, (12), S. 31)

Im Moment der zerreißenden Trennung nach der Nähe, und dem äußersten Grad physischer Schwäche, folgte Shaykh al-Alawis´ Trübung beim Anblick des Arztes ein höherer Grad an Erkenntnis, welche sein Wissen über das Göttliche erweiterte, denn der Arzt war nichts mehr als ein Mittel um den göttlichen Willen auszuführen. Oder wie es Ibn 'Ata Illah sagt: “Mein Herr, durch die Vielfalt an unglaublichen Spuren und den Wandel ineinander folgender Zustände erkenne ich, dass Du von mir willst, Dich mir in allem zu offenbaren, sodass ich über Dich nicht mehr unwissend in irgendetwas verbleiben kann.” (vgl. Munajat (8), 82:11)
 

Mangel an Fortschritt auf dem spirituellen Weg

Spirituelles Leid beinhaltet auch das des Murīd (Schülers) dessen Suluk (spiritueller Weg) einen Stillstand erfährt. Als ich mich einst zu Beginn meiner Tariqah bei Shaykh Abd al-Rahman über mein gelegentliches Tief von Mutlosigkeit beschwert habe, sagte er mir: “Allāh wechselt spirituelle Ausdehnung (bast) und Zusammenziehung (qabd) im menschlichen Herzen so ab wie die Nacht auf den Tag folgt, bis Allāh dich nur mit Ihm sein lässt.” Länger als solche Wechsel sind die Phasen spiritueller Trockenheit, die manchmal einsetzen, nachdem der Schüler den Pfad begonnen hat - als eine Prüfung Allāhs seiner Ehrlichkeit. Jeder kann ein Diener sein, wenn es einfach ist, doch wer soll einer sein, wenn es nicht so ist? Wahre Dienerschaft bedeutet Tawakkul, das Verlassen auf Allah, und seine Dienerschaft fortzusetzen was auch immer kommen mag. Wie Ibrahim al-Dasuqi sagte: “Wen auch immer Allāh prüft, so möge er geduldig sein, denn Er prüft ihn nur um ihn zu erheben – oder um ihn loszuwerden.”

Aber wenn spiritueller Fortschritt länger aufgehalten wird, dann steht der Schüler einem grundlegenden Hindernis gegenüber, so wie z. B. Stolz, Mangel an Zufriedenheit, oder der Ruh-Verschmutzung durch die Verinnerlichung von Ansichten, Zielen oder Eigenschaften jener, die spirituell tot sind. Solche Hindernisse können jahrelang durch “Verschönung” unangetastet bleiben, indem man nicht zum Shaykh zurückkehrt. In so einem Fall wird der Schmerz, verursacht durch einen Mangel an Fortschritt, als Botschaft von Gott an den Murīd angesehen, dass er ein Problem mit seiner Einstellung hat und zu den Grundlagen zurückkehren soll. Eine Tariqa besteht nicht nur aus einem Schüler, sondern auch aus einem Lehrer, durch dessen Leitung der Schüler seine Reise erreicht, sofern er Adab und Ausdauer hat. Leid ist ein Geschenk Allāh´s, wenn es einen zurück auf den Weg des Erfolges bringt. Oft ist es ein Vorbote von göttlicher Erhebung, so wie es Ibn Ata Illah sagt: “Intensive Bedürfnisse die auftauchen sind Festtage der Schüler.” (vgl. Hikam (8), 52:174)

 

Entfremdung von Allāh

Ein anderes, üblicheres spirituelles Leid ist die Entfremdung von Allāh durch Sünden. Die Weisheit darin ist es zu bereuen und die Nähe zu Allāh zu erneuern. Ibn Ata Illah sagt: “Wie oft war eine Sünde, die Erniedrigung und Bedürfnis brachte, besser als ein Akt des Gottesdienstes, welcher Hochmut und Arroganz nach sich zog?” (Ibid., 36:39) In diesem Sinne sagte auch der Prophet (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil): “Bei dem, in dessen Hand meine Seele liegt, würdet ihr alle nicht sündigen, so hätte Allāh euch alle fortgeschafft und ein Volk gebracht, das sündigt und um Allāhs Vergebung bittet, und Er würde vergeben.” (s. Muslim (14), 4.2106:2749)
Wenn auf eine Sünde keine Reue folgt, so ist die göttliche Weisheit darin ein Lehrbeispiel für andere durch die individuelle Zerstörung und Verdammnis, abhängig davon, durch welche göttlichen Namen es sich manifestiert, so wie zum Beispiel: Der Rächer, Der Erniedriger o.a.

Am Ende sind die Manifestationen göttlicher Weisheit hinsichtlich des Leidens viele. Das meiste Leid lehrt uns, uns von allem, außer von Allāh, zu lösen. Manche, wie die der Propheten und Heiligen erfüllen uns in einem Sinne mit der Erhabenheit des Leidenden und seiner Stärke. Manche zeigen uns die Größe göttlichen Segens in der Erleichterung nach Bedrängnis. Alle offenbaren jenen mit Weisheit die Unendlichkeit göttlicher Perfektion, Schönheit, Souveränität und Gerechtigkeit, “…niemand aber will es bedenken, außer den mit Verständnis Begabten.” (Qur´ān, 2:269)

Sogar ein Funken Weisheit zeigt die Ungültigkeit der Idee, dass “jemand der gut und gerecht ist, kein Leid zulassen würde, könnte er es verhindern”. Dies nur anzudeuten zeigt einen grundlegenden Mangel am Realismus menschlicher Natur, was schwer von jemandem erwartet werden könnte, der auch nur einige Zeit auf dieser Welt gelebt hat und mit Menschen zu tun hatte, geschweige denn von Jemandem, Der sie erschuf.

 

7. SCHLUSSFOLGERUNGEN: DIE NATUR DES BÖSEN

Um alles was wir gesagt haben zusammenzufassen, sind die vorangehenden Aspekte göttlicher Weisheit jene, die durch eine existenzielle Einstellung (Hal) vollkommenen Vertrauens in Allāh offengelegt sind, dessen Zeichen “Husn al-dhann bi Llah”, oder immer das Beste von Allāh zu denken, ist. Diejenigen die dies besitzen, erfinden keine hypothetischen Situationen und besteuern dann Allāh damit, sondern begrenzen sich auf Situationen über dessen Verlauf sie Bescheid wissen und Besonderheiten, die ihnen bestens bekannt sind. “Leid” im allgemeinen Sinn ist so eine hypothetische, abstrakte Wahrheit, da das Leiden eines Teiles sehr wohl das Wohlergehen des Ganzen beinhalten kann, oder einen der vielen Aspekte von Weisheit, die wir erwähnt haben.

Kehren wir einen Moment zu dem Vernunftschluss zurück mit dem wir begonnen haben:

(1) Gott ist allmächtig.

(2) Gott ist gut und gerecht.

(3) Jemand der gut und gerecht ist, würde kein Leid und Übel zulassen, wenn er es verhindern könnte, und doch existiert beides auf der Welt.

(4) Daher ist Gott entweder nicht allmächtig oder Er ist nicht gut und gerecht.

Von unserem Wissen über Tawḥīd, der Einheit und Einzigartigkeit Gottes, betrachtet, ist es offensichtlich, warum die Schlussfolgerung “Daher ist Gott entweder nicht allmächtig, oder er ist nicht gut und gerecht” diesen Voraussetzungen nicht entspringen kann. Die Grundbegriffe “gut” und “gerecht” sind mehrdeutig: Sie werden als Prämisse (2) benutzt, indem sie auf eine Reihenfolge des Seins angewendet werden, das des Göttlichen; während in Prämisse (3) beide verwendet werden, um sowohl auf das Göttliche angewandt zu werden als auch auf eine Reihenfolge unterschiedlichen Seins, das des Menschen zum Beispiel – über den es eigentlich wahr ist, dass “jemand der gut und gerecht ist, Leid und Übel verhindern würde, wäre er in der Lage dazu” - und selbst dann nicht immer, denn jemand der gut und gerecht ist, kann sehr wohl “das kleinere zweier Übel” wählen, oder zeitliches Leid auferlegen, indem er z. B. eine Operation anordnet, um eine Krankheit zu heilen, oder in zahllosen anderen ethisch gültigen Gründen. Und unsere rund zwanzig Beispiele in dem vorigen Abschnitt haben gezeigt, wie wenig die erste Behauptung der Prämisse (3) auf Gott anwendbar ist.

Wir haben erkannt, dass die Autonomie Allāhs, Seine oberste Perfektion in Sich Selbst, und die Tatsache, dass der Mensch kein Teilhaber (Sharik) darin ist, eine Anzahl von Konsequenzen beinhalten: Zuerst, Allāhs Güte, Gerechtigkeit, Gnade und andere Attribute sind von uns nur bis zu dem Grad greifbar, den unser all-zu-menschliches Verständnis absorbieren kann im Lichte dessen, was Er uns darüber in Qur'ān und Sunna des Propheten (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) offenbart hat. Wie es Abul Hasan al-Shadhili in seinen Gebeten des Lichtes gesagt hat: “Ich kann Deinen Lobpreis nicht schätzen, denn Du bist so wie Du dich Selbst lobgepriesen hast: In der Tat, Du bist sogar zu majestätisch für Lobpreisungen, die nichts weiter als Störfälle sind, welche Deine Freizügigkeit andeuten, die Du uns über die Zunge Deines Propheten geschenkt hast, sodass wir Dich damit in unserem eigenen Maße anbeten können, und nicht in Deinem.” (vgl. Awrad al Tariqa al Shadhiliyya (17), 28)

Allāhs Gerechtigkeit ist an sich anders als die Gerechtigkeit des Menschen. “Moralisch zurechnungsfähig” bedeutet nicht mehr oder weniger als “Allāh gegenüber verantwortlich”. Es ist bedeutungslos zu fragen, “ob” Er gerecht ist, denn Sein Urteil ist das, was Gerechtigkeit ist. “Er kann nicht befragt werden nach dem, was Er tut, sie aber werden befragt werden.” (Qur´ān, 21:23)

Drittens, aufgrund der beschränkten und bruchteilhaften Natur unseres Wissens über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nichts über die Details des Kosmos zu sagen, unsere eigenen Motive, die der anderen, die Teile der Leben anderer, die wir nicht sehen und über allem die Unendlichkeit – durch welche allein die Konsequenzen der Gegenwart zum Verständnis transparent werden – verbleiben Leid und Übel zumindest bis zu einem Grad undurchsichtig in diesem Leben. Ihr volles Wissen, sofern wir über die Grenzen unseres eigenen realistisch sind, muss an ihren Erschaffer übergeben werden.

Viertens, weil Allāh die Primäre Wahrheit darstellt, und die Einzelheiten uns nicht vollkommen bekannt sind, sich von Ihm alleine ableiten, beinhaltet Seine Eigene Perfektion aus der Perspektive des Allwissens, dass die Welt perfekt ist, obwohl sie lediglich aus der menschlichen Sichtweise, die begrenzt und unvollendet ist, imperfekt, böse und voll mit unnötigem Leiden erscheint.

In anderen Worten: die Realität ist in ihrer Gesamtheit, die anschaubare Wahrheit, die Unendlichkeit Allāhs und Seine endlose Perfektion. Die 'Arifin, oder jene, die Allāh direkt und in ihrer Erfahrung kennengelernt haben - Männer wie Imam Ghazali, Mawlana Rumi, Shaykh al-Alawi, oder Shaykh Abd al-Rahman (möge Allāh mit ihnen zufrieden sein) - haben den Weg zu Ihm überschritten und diese Perfektion erkannt, indem sie ihrer Quelle bewusst blieben, so wie es Abd al-Ghani al-Nabulsi gesagt hat: “Mein Auge schaut auf nichts abseits Deiner Schönheit.” (Diwan (15), 1.246) Ihr spiritueller Ausgangspunkt offenbarte ihnen die radikale Bestätigung, dass alles von Gott ist und sie alle haben einstimmig gesagt, wie es der Prophet berichtet hat: “Alle Schöpfung von Allāh, dem Allmächtigen und Majestätischen, ist ansehnlich.” (vgl. Ahmad (9), 4.390:19475), oder wie es unser Shaykh auszudrücken pflegte: “Würde einer von euch das unsichtbare Wissen umfassen, so wählte er nichts anderes, als was ist.” Denn alles was ist, existiert nur durch Allāhs perfekte Verteilung über Seine eigene Souveränität: Er tut was Er will und herrscht wie Er bestimmt. Die offensichtliche Frage des Menschen ist: Wieso sollte man sich nicht bemühen Seine ewige Gunst und Glückseligkeit zu gewinnen anstatt Seines ewigen Zorns und Seiner Bestrafung?

Abschließend können wir durch all das die Natur des Bösen verstehen und erkennen, dass das Böse dem Menschen feindlich gesinnt ist und nicht Gott. Das Böse ist eine Rebellion gegen das Göttliche, welche nicht von Reue gefolgt wird.

 

Originalquelle: http://seekershub.org/ans-blog/2011/07/31/suffering-and-divine-wisdom/

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