Datum: 
07.10.2017

Welche Rolle sollte der Verstand bei der Suche nach Gott spielen?

Frage: Ich bin Agnostiker, ich glaube also daran, dass es einen Gott geben könnte, doch aufgrund des Mangels an Beweisen, treffe ich diesbezüglich keine endgültige Entscheidung. In letzter Zeit bin ich sehr am Islam interessiert. Ich stelle fest, dass die Botschaften immer voller Liebe und Barmherzigkeit sind. Allerdings erscheinen mir einige Aspekte der Religion, nicht nur auf den Islam bezogen, als unvereinbar mit meiner Sicht des Universums. Diese Aspekte beziehen sich hauptsächlich auf diverse mystische Phänomene. Um genauer zu sein beschäftigt mich das Konzept der Engel, der Dschinn (Geistwesen), des Paradieses, der Hölle und des Jüngsten Tages. Ich weiß, dass all dies wesentliche Bestandteile des Islams sind. Ich wurde so erzogen, niemals etwas blind zu akzeptieren.

Beobachtungen und Fakten einer kritischen Prüfung zu unterziehen, macht mich als Wissenschaftler aus. Ich war immer schon der Auffassung, dass Religion und Wissenschaft nicht im Gegensatz zueinander stehen. Aber der Versuch, diese Konzepte aus einem kritischen Blickwinkel heraus zu erfassen, verleitet mich dazu, sie ganz abzulehnen. Natürlich könnte ich sie einfach umdefinieren, sodass sie unter kritischen Rahmenbedingungen Sinn machen würden, doch ich befürchte, solch eine Vorstellung würde ihnen den Platz, den sie im Islam innehaben, absprechen. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, dass das Paradies und die Hölle nur Bewusstseinszustände sind, in welchen wir unsere Zeit auf der Erde erleben, und der Jüngste Tag ein fortwährendes Ereignis ist.

Allerdings ist mir auch klar, dass das Re-Interpretieren des Qur´ān in einer metaphorischen Weise zu einem beliebigen Zeitpunkt - so wie es z. B. von den Muʿtazila praktiziert wurde - von den meisten Zweigen des Islam nicht akzeptiert wird.

Ich kann mich diesen Ansichten aber nicht einfach beugen, es würde mich zu einem Heuchler machen. Außerdem denke ich, dass die Ablehnung der Fähigkeiten des Denkens und des Verstandes, die mir von Gott gegeben wurden, eine Beleidigung Ihm gegenüber wäre. Haben Sie einen Ratschlag für mich, der mir hilft, einen Weg zu finden, ein guter Muslim zu sein – ohne mich dabei selbst zu belügen? Vielen Dank.

Antwort: Im Namen Allāhs, Des Allerbarmers, Des Barmherzigen.

Ich danke dir für die Frage. Sie reflektiert eine der größten Herausforderungen, mit der es Religion in der modernen Welt zu tun hat. Religion fußt auf Glauben, während sich die moderne Welt einem bestimmten Paradigma gewidmet hat - dem des Verstandes,. Dies zeigt sich in der modernen Wissenschaft und im kritischen Denken. Die nun folgenden Zeilen stellen lediglich eine Zusammenfassung dieses Themas dar.  Es verdient eigentlich eine bei weitem tiefere Auseinandersetzung.

Über den Glauben, das  Herz und den Verstand 

Der Gesandte Muḥammad (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) wurde gefragt, was man unter dem „Glauben“ zu verstehen ist, worauf er antwortete: „Dass du an Allah, an Seine Engel, an Sein Buch, an die Begegnung mit Ihm, an Seine Gesandten, an die Auferstehung und an die Vorherbestimmung, die sich im Gutem und im Schlechten manifestiert, glaubst.“ (Ṣaḥīḥ Muslim)

Der Hauptaspekt dieser prophetischen Antwort liegt im Beginn der Aussage: „Dass du glaubst.“ Der Glaube ist letztlich in dem verwurzelt, was die islamische Kosmologie „das Herz“ nennt – das spirituelle Herz. Das ist der Ort des Glaubens für die Menschen. Hier befindet sich die geistige Fähigkeit des Menschen, die es ermöglicht, das Göttliche zu erkennen - mit einem Wissen, das aus Unterwerfung, Hingabe, Zufriedenheit mit Seiner Bestimmung und aus Dankbarkeit resultiert. Das sind jene Mittel, die zu echtem Wissen über Gott führen - und es sind die einzigen. 

Der Verstand, so wichtig und wertvoll er auch sein mag, ist somit nicht die einzige Befähigung, mithilfe derer der Mensch Wahrheit erkennen kann. Der Verstand allein kann niemals wahres, erfahrungsbezogenes (empirisches) Wissen des Göttlichen erreichen. Trotzdem ist er ein unverzichtbares Instrument für menschlichen Erfolg in weltlichen Angelegenheiten und eine Hilfestellung im menschlichen Streben nach dem Göttlichen.

Das ist deshalb so, da der erste Schritt der spirituellen Reise zur Erlangung der Zufriedenheit Gottes das Erlernen dessen ist, was Er in Seinem offenbarten heiligen Gesetz für uns bestimmt hat. Dieses Wissen wird durch den Intellekt erworben - es jedoch im Leben anzuwenden, im Zustand der Ergebenheit und Zufriedenheit, ist die Aufgabe des spirituellen Herzens und nicht des Verstandes.

In der islamischen Kosmologie gilt die Niederwerfung (saǧda) als die am symbolischsten, physische Manifestation der menschlichen Unterwerfung vor dem Göttlichen. Der Gesandte Muḥammad (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) hat sie als eine Position beschrieben, in welcher der Diener seinem Schöpfer am nächsten ist. Interessanterweise ist das Gehirn in dieser Position unterhalb des Herzens. Mit der Stirn auf dem Boden wird der Verstand dazu gebracht, sich dem Herzen zu unterwerfen, während das Herz den ihm gebührenden Platz der Überlegenheit einnimmt. 

 

Der Rang des Intellekts 

Dieses Verständnis verneint keinesfalls den Wert des menschlichen Intellekts. Der Verstand ist vielmehr eines der größten Geschenke, das Gott der Menschheit gegeben hat. Muslimische Gelehrte haben viel über den Wert des Intellekts und seinen hohen Stellenwert im Islam geschrieben. Er stellt sowohl die Grundlage menschlicher Zivilisation und Entwicklung dar, als auch das Mittel, mithilfe dessen Menschen lernen, wie sie ihrem Schöpfer dienen sollen. In Verbindung mit Erfahrungswissen hat er enormes Potential für gesellschaftliche Verbesserungen. 

Wie ein arabischer Dichter einst sagte: „Bemerkst du nicht, wie der Verstand eine Zierde für seinen Besitzer ist? Seine Perfektion aber gelingt nur mit reichlich Erfahrung.“ (s. Māwardī, Adab ad-Dunyā wa ad-Dīn)

Gleichwohl ist der Verstand, wie jedes Organ und jedes körperliche Vermögen, Grenzen unterworfen. Deshalb hält der muslimische Gelehrte Imām Az-Zarnūǧī fest: 

„Die Leute der Wahrheit – diejenigen, die den prophetischen Weg gehen und die muslimische Mehrheit – bemühen sich, die Wahrheit von Gott zu erlangen. Eine Wahrheit, die klar ist, die leitet und schützt. Sodann leitet und beschützt Gott sie davor, vom Weg abzuweichen.

Die irregeführten Leute jedoch sind solche, die von ihrer Meinung und ihrem Intellekt eingenommen sind und die Wahrheit einzig und allein mithilfe dieser erschaffenen Fähigkeit in sich suchen. Der Verstand alleine jedoch ist nicht in der Lage, die Wahrheit zu erkennen, da er nicht alles wahrnehmen kann, ebenso wie das Auge nicht alles sehen kann. Das Erkennen der Wahrheit bleibt ihnen somit verborgen. Es erweist sich so als unmöglich für sie, die Wahrheit zu erfassen. Sie fallen einem Zustand der Irreführung anheim und kommen vom Weg ab… Daher ist es die erste Aufgabe des Verstandes, seine Grenzen zu erkennen, was in folgender prophetischen Überlieferung reflektiert wird: „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.“ Das heißt, dass wer seine eigene Unfähigkeit erkennt, der wird die endlose Macht des Allmächtigen erfahren. Solch eine Person wird sich nicht auf sich selbst oder ihren Verstand verlassen, sondern ihr Vertrauen voll und ganz auf Gott fassen und die Wahrheit nur von Ihm erstreben. Und wer auch immer sein Vertrauen vollkommen in Gott legt, dem genügt Gott, Der ihn auf einen glorreichen, klaren Weg leitet.“ (s. Az-Zarnūǧī, Ta'līm al-Muta'allim) 

Obwohl Imām Az-Zarnūǧī vor 800 Jahren lebte, sind seine Worte zeitlos und erweisen sich für uns auch heute noch als relevant – mindestens in gleichem Maße, wie sie es zu seiner Zeit waren, wenn nicht sogar noch mehr. Wir leben in einer Zeit, in welcher der Verstand verehrt wird. Man verlässt sich allein auf ihn, um jegliche Art von Wahrheit zu erkennen. Trotz seiner Großartigkeit und Brillanz, ist der Verstand aber begrenzt. Ebenso wie das menschliche Auge, kann der Verstand nicht die gesamte Realität erfassen. Wir wissen, dass bestimmte Wellenlängen das sogenannte sichtbare Lichtspektrum darstellen. Das Auge ist eingeschränkt und kann – obwohl es ein außerordentliches Organ ist – keine Wellenlängen außerhalb des Lichtspektrums wahrnehmen. Egal wie stark es zu fokussieren versucht, das Auge allein ist nicht in der Lage, Gegebenheiten außerhalb dieser Wellenlängen wahrzunehmen. 

Bedeutet dies nun, dass die Realität nur auf das Lichtspektrum begrenzt ist, da dies ja alles ist, was wir sehen können? Natürlich nicht. Und außerdem wissen wir, dass zum Beispiel einige Vogelarten und Bienen außerhalb unseres wahrnehmbaren Lichtspektrums sehen können. Sie haben Zugang zu Realitäten, zu denen wir keinen Zugang haben. 

Als solches müssen wir den Intellekt verstehen. Er ist eine phänomenale Befähigung, mit der wir ausgestattet wurden. Der Intellekt kann in der materiellen Welt wahrlich Wunder bewirken, und doch hat er seine Grenzen. Es gibt bestimmte Gegebenheiten, zu denen der Intellekt einfach keinen Zugang hat, unabhängig davon, wie sehr versucht wird, diese Realitäten wahrzunehmen. Sich damit abzufinden, ist für den modernen Menschen, der von einem der Wissenschaft und dem kritischen Denken gewidmeten Zeitalter vereinnahmt ist, nicht einfach.

Deshalb erweist sich Imām Az-Zarnūǧīs anderer Ratschlag als ebenso zeitlos, nämlich nicht beeindruckt und geblendet von unserem Verstand zu sein. Je eingenommener wir von unseren geistigen Fähigkeiten sind, umso schwieriger ist es, ihre Grenzen zu erkennen. Der aufrichtige Wunsch, spirituelle Realitäten wahrzunehmen basiert auf Demut und der Anerkennung eigener Grenzen. Das ist der Schlüssel, der zur Annahme der Wahrheit führt, und auch der Schlüssel dazu, beim Umsetzen der Wahrheit in unserem Leben voranzukommen.

Daher lautet die Bezeichnung unserer Religion auch „Islam“ - ein Wort, das im Arabischen buchstäblich „sich unterwerfen“ heißt. Unterwerfung ermöglicht das Anerkennen und die Akzeptanz der Göttlichen Einheit. Sie ist das bedeutendste Mittel für spirituelles Wachstum nach dieser Akzeptanz.

Propheten und Gesandte: Jenseits des Spektrums 

Ebenso wie Vögel und Bienen Realitäten jenseits des sichtbaren Lichtspektrums sehen können, wurden einigen Menschen Realitäten außerhalb der Reichweite menschlicher Wahrnehmung gezeigt. Gott hat sie auserwählt und damit geehrt, Seine Botschaft der Göttlichen Einheit und der Hingabe zu übermitteln. Er zeigte ihnen viele Realitäten, zu denen wir keinen Zugang haben, damit sie uns diese durch ihre unmittelbare Erfahrung übermitteln, anstatt uns bloß darüber zu informieren. Wie der Gesandte Muḥammad (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) sagte: „Informiert zu werden ist nicht vergleichbar mit der tatsächlichen Erfahrung.“ (s. Musnad Aḥmad, Mustadrak ḥakīm) 

Die Propheten und Gesandte (Allāh segne sie alle) sahen unverschleiert Engel, Dschinn, das Paradies und die Hölle. Ihnen wurden Einblicke in Geschehnisse, welche am Jüngsten Tag passieren werden, gewährt. Auch erhielten sie Offenbarungen von Gott als Bestätigung dessen, was sie sahen. Diese Realitäten sind Hauptbestandteile des Glaubens, und sie sind, wie Du bereits erwähntest, unter keinen Umständen metaphorisch oder allegorisch zu verstehen. Sie sind buchstäblich zu verstehen und vollkommen real. Sie zu akzeptieren, ist daher nicht eine Sache der Erkenntnis, sondern vielmehr des Glaubens. Der menschliche Verstand kann diese Gegebenheiten nicht wahrnehmen, unabhängig davon, wie intelligent eine Person ist, und wie sehr ihr Technologien dabei als Hilfe zur Verfügung stehen. 

Logisches oder kritisches Denken wird diese Realitäten nicht bestätigen, noch werden wissenschaftliche Experimente jemals Zugang dazu haben.   
Der Verstand existiert nur, um sie zu verstehen. Das spirituelle Herz glaubt jedoch an sie. Es ist das spirituelle Herz, das dem Menschen vollste Überzeugung an sie verleiht, sowie das Bestreben und die Entschlossenheit, angemessen auf sie (Anm.: die oben besprochenen Realitäten) zu reagieren, und zwar durch Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit dem Göttlichen gegenüber. 

Daher würde dich die Unterwerfung unter diese Bestandteile des Glaubens nicht zu einem Heuchler machen, noch würde das irgendeinen Selbstverrat zur Folge haben. Sich Gott zu unterwerfen, ist keine Beleidigung Gottes, sondern der wahre Inbegriff des Handelns, das Er liebt. 

Glaube führt nicht zur Ablehnung von Vernunft. Vielmehr ordnet er den Fähigkeiten des Menschen ihre entsprechenden Rollen zu. Der Verstand ist richtig am Platz, wenn er innerhalb seiner Grenzen arbeitet. Und das Herz ist dann am richtigen Platz, wenn es mit dem Göttlichen ist. 

 

Eine abschließende Bemerkung und einige Leseempfehlungen 

Abschließend kann festgehalten werden, dass die wahre Grundlage zur Annahme solcher Realitäten nicht darin liegt, über die Natur der Gegebenheiten selbst nachzudenken, sondern über Den, Der sie uns übermittelt. Das ist Dreh – und Angelpunkt dieser gesamten Diskussion. Die Überzeugung des Gläubigen von der Wahrheit des Inhalts der Offenbarung ist unmittelbar mit seinem absoluten Vertrauen in die Ehrlichkeit, moralische Integrität und den vollkommen Charakter des Propheten bzw. des Gesandten verbunden. 

Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Charakter des Propheten Muḥammad (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) empfehle ich folgendes Buch: 

  • Muḥammad: Sein Leben nach den frühesten Quellen. Von Martin Lings.
    (Originaltitel: Muhammad: His Life Based on the Earliest Sources) 

 

Für einen zusammengefassten Überblick seines erhabenen Charakters (Allāh segne ihn und schenke ihm Heil) empfehle ich folgenden Artikel (in Englisch): 

Für weitere Diskussionen über die islamische Weltsicht im Angesicht der modernen Perspektive auf die Wissenschaft und das kritische Denken empfehle ich folgende Bücher (englische Originaltitel): 

•           Deliverance from Error. Von Imām Ghazali 

•           Marvels of the Heart. Von Imām Ghazali 

•           King of the Castle. Von Charles Le Gai Eaton

•           Islam and the Destiny of Man. Von Charles Le Gai Eaton